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René Sydow live @ Periplaneta:

„Das Gehirn will eigentlich denken!“

Die Lesung im Periplaneta Literaturcafé war ursprünglich für Samstag geplant. Wegen des Champions League Finales wurde sie kurzfristig einen Tag vorverlegt. Den Veranstaltungsmagazinen war diese Änderung leider entgangen. Trotzdem war das Literaturcafé ausverkauft.

Ein „Slam-Kabarett-Abend” war angekündigt, bei dem René Sydow zum ersten Mal in Berlin sein Solo-Programm „Gedanken! Los!“ vorstellen sollte. Mit traditionell 15-minütiger Verspätung kündigt der Periplanetaner Thomas Manegold den Star des Abends an: René Sydow, das Multitalent. Er ist als Schauspieler, Filmemacher, Kabarettist und Autor aktiv, und die Szene sei sich einig, dass er einer der zurzeit besten Poetry Slammer sei…

Mit solchen Vorschusslorbeeren bedacht, tritt er vor das Publikum und beginnt ohne einleitende Worte, seinen ersten Text vorzutragen. Sydow liest sehr schnell und rhythmisch, wie sich das für einen Poetry Slammer gehört. Nach dem ersten Text begrüßt er sein Publikum doch noch und erzählt ein bisschen von sich. Im März 2012 habe er seinen ersten Poetry Slam Text geschrieben. Der Auslöser sei die Eurokrise gewesen. Es überrascht, dass ihn gerade ein politisches Thema auf diese Gattung gebracht hat….

Denn, wer schon öfter bei Poetry Slam Abenden war, der kennt bestimmt Texte, bei denen es anscheinend mehr darauf ankommt, wie etwas vorgetragen wird, als was vorgetragen wird. Man lehnt sich zurück und genießt einfach den schönen Klang der Worte, die auf einen niederprasseln. Das ist beim politischen Kabarett ähnlich. Man genießt die bissigen Kommentare, lacht laut über das Böse in der Welt und freut sich am Ende des Abends, seine Pflicht als kritischer Bürger erfüllt zu haben. Heute Abend aber lohnt es sich ganz besonders, auf den Inhalt der Texte zu achten. Man merkt, dass Sydow sein Publikum erreichen und etwas bei ihm auslösen will.

Bis auf drei Gedichte (ein melancholisches, ein albernes und eins als Zugabe) sind seine Texte wilde gedankliche Achterbahnfahrten. Aufhänger sind dabei etwa ein Gespräch mit seinem Therapeuten oder der ausgebliebene Weltuntergang. Die darauf aufbauenden Handlungen liefern aber nur ein grobes Gerüst, mit dessen Hilfe seine Gedanken Fahrt aufnehmen können. Er kritisiert Politik und Medien, spottet über die Verdummung der Gesellschaft und beklagt, dass uns die Leidenschaft abhandengekommen sei. Dabei sind seine Texte voll von amüsanten Wortspielereien. Gerne verfremdet er bekannte Redewendungen. So sagt er zu den Verlockungen der Konsumgesellschaft: „Wer im Spaßhaus sitzt, wird mit Scheinen beworfen.“ Das klingt nach Kalauer, bleibt aber im Gedächtnis haften. Um etwas an den kritisierten Zuständen zu ändern, möchte Sydow bei seinem Publikum die Leidenschaft entzünden. In einem seiner Texte heißt es: „Ich bin nur der Funke, seid ihr der Flächenbrand!“ Das ist ein hoher Anspruch. An sich und an sein Publikum.

Es war ein gelungener Abend. Ich habe dem schönen Klang seiner Worte gelauscht. Ich konnte über das Böse in der Welt lachen. Zurückgelehnt habe ich mich nur selten. René Sydow sagt: „Auch wenn wir es manchmal nicht wahrhaben wollen: Das Gehirn will eigentlich denken.“ Wenn man ihm solches Material gibt, ist auch mein Gehirn gerne mit dabei. Der Funke ist übergesprungen.

Tobias Schütz

René Sydow live in Berlin
René Sydow live in Berlin

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