Magersucht ist kein Zuckerschlecken.
Zu manchen Themen scheint es nur eine Meinung zu geben: Drogen sind schlecht, Politiker sind böse, Fernsehen macht dumm. Mit diesem einstimmigen Singsang werden auch die Magersüchtigen bedacht. Die sollen doch einfach mal was essen und die Schuldigen für ihre Krankheit sind auch schnell gefunden: Die Medien, das Internet, die Spielzeugindustrie
Man fordert das Verbot der Pro Ana Foren, denn hier werden nicht nur die physischen Nebenwirkungen wie Kreislaufschwächen oder Organschäden verharmlost, man motiviert sich auch gegenseitig mit „Thinspiration“-Bildern.
Wenn die Modeindustrie als Ursache allen Übels gesehen wird, stürzt man sich auf die dümmlichen Ansagen in „Germany`s next Top Model“ oder zitiert Kate Moss: „Nichts schmeckt so gut, wie das Gefühl dünn zu sein!“
Bei der Eröffnung der rosaroten Barbie-World in Berlin liefen Gegner Amok, weil das Plastikpuppen-Schönheitsideal die Kinder konditionieren würde. Mit dem gleichen Argument könnte man übrigens auch Teddys verbieten – wer möchte schon, dass sein Kind irgendwann einmal gerne pummelig und stark behaart durch die Gegend läuft.
Natürlich können all diese Aspekte triggern, allerdings gibt es Magersucht nicht erst seit der Erfindung des Schlankheitswahns in den 1960ern, als Twiggy eine neue Model-Ära einleitete. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts wurden Fälle von Anorexia (damals hysterica, heute nervosa) dokumentiert. Es geht also nicht nur um ein optisches Problem, sondern um ein zutiefst psychisches.
Kategorischen Schuldzuweisungen und Verallgemeinerungen sind dementsprechend inadäquat angesichts einer solch komplexen Krankheit, die bei 15% der Betroffenen tödlich endet. Das beweist jedes Einzelschicksal, wie beispielsweise die Geschichte von Mara Schwarz in „Magersucht ist kein Zuckerschlecken“. Nicht nur die Ursachen von Anorexie sind völlig unterschiedlich, sondern auch die Bewertung der eigenen Erkrankung.
Die Hauptproblematik an dieser Krankheit ist die Sucht. Die absolute Kontrolle über den Körper ist nur das Symptom und es hätte auch eine andere pathologische Zwangsstörung werden können. Daher überrascht es nicht, wenn mit bloßer Zwangsernährung niemand gesund wird. Einen Zwang mit Erzwingen bekämpfen zu wollen, funktioniert nie. Wenn Betroffene essen müssen, ist das für sie genauso unerträglich und lebensbedrohlich wie ein kalter Entzug bei Drogenabhängigen oder Alkoholikern.
Viele „erfolgreich Therapierte“ leiden ihr Leben lang und etliche haben nach einer „Heilung“ Depressionen, weswegen sie oft wieder eingewiesen werden. Im schlimmsten Fall treffen sie dann dort wieder auf andere Magersüchtige, und der Teufelskreis beginnt von vorn. Eine Sucht bleibt eine Sucht. Erkrankte müssten raus aus ihrem Umfeld, so würden die Chancen auf eine Heilung sehr viel höher stehen. Denn das alte Umfeld wird sie weiterhin, wenn auch ungewollt, an die eigentliche Ursache (Missbrauch, Mobbing, Erfolgsdruck, Lieblosigkeit, ect.pp.) erinnern.
In den USA werden mittlerweile Hirnschrittmacher gegen Magersucht eingesetzt. Diese bewirken, dass Lebensmittel nicht mehr mit Kontrolle und negativen Gefühlen assoziiert werden. Doch ob diese Brachialmethode den Einzug in Deutschland finden wird, ist Gott sei Dank fraglich. Da könnte man ja gleich wieder die Lobotomie einführen, die hat schließlich auch eine billige Ruhigstellung des Irrsinnigen bewirkt.
Suchtkranke müssen selbst erkennen, dass sie entweder sterben werden, oder den Kampf beginnen müssen. Wie auch bei Mara Schwarz. Erst als sie vor der Wahl stand, Hospiz oder Kampf, hat sie sich entschieden. Allerdings ist ein Feldzug eben noch lange kein Sieg.
Caroline Dietz & Marion Alexa Müller