Jeden 2. Samstag ab 21:00 Uhr im Mastul.
Alles sieht aus wie zu Hause im Wohnzimmer vor ungefähr vierzig Jahren: die alte Tapete in schalen Farben, die Leserstühle rings um den kleinen Tisch und direkt vor der ersten Zuschauerreihe ein steinalter Gasofen, der nach kurzer Diskussion mit dem Wirt schließlich vorsichtig angeschaltet wird und anfangs gelegentlich Feuer hustet. In der Pause dominiert das Weddinger Stammpublikum die Theke; wer abseits sitzt, ist entweder neu in Berlin oder Migrant aus dem Prenzlauer Berg.
Auch das Stammpersonal rekrutiert sich fast ausschließlich aus dem Karree Seestraße: Thilo Bock, Frank Sorge und Robert Rescue (zusammen mit Sorge auch bei den „Brauseboys“) sowie Singer/Songwriter Martin Goldenbaum. Was hier präsentiert wird, ist wohl das, was – entweder wohlmeinend oder abschätzig – als „Kiez-Literatur“ bezeichnet wird: Kein Text ohne Regionalbezug, ohne Einheit von Autor und Protagonist und ohne humorvollen Unterton. Für einen Neuberliner anfangs ein Kulturschock – gemildert nur durch die wohlige Wärme des Ofens, der gelegentlich die Schürsenkel ansengt, sowie das musikalische Zusatzprogramm. Zwischen den urigen Texten wird gerne mal ein paar Minuten mit dem Publikum geplaudert oder die Autoren werfen sich gegenseitig freundschaftliche Sticheleien an den Kopf.
Letztlich stellt einen der Abend wohl vor zwei Möglichkeiten: Entweder man zuckt beim ersten Mal, da das Wort „Wedding“ fällt, schmerzhaft zusammen und verlässt in der Pause Hals über Kopf den Laden – oder man lässt sich fallen in diese Geschichten von Menschen, die einfach aus ihrem Leben erzählen oder mit kindlicher Freude absurde Szenarien vor einem ausbreiten, lässt sich einmummeln von der Wärme des Ofens und dem schrägen Klavierspiel und mitnehmen auf eine Reise: einmal rund um den Block und wieder zurück.
Paul Waidelich