Die ganze Wahrheit über den Suizid-Mythos der Kult-Nager.
Lemminge sind vor allem dafür bekannt, dass sie stur auf Klippen zurennen und sich in die Fluten stürzen. Dieser faszinierende Massenselbstmord hat die kleinen Wühlmäuse so populär gemacht. Auch in der Geschichte „Höhnenschwindel“ (aus dem multimedialen Buch-Grafik-CD-Projekt Nautilus ) reißen sich die kleinen Nager darum, ins Meer zu hüpfen. Im dazugehörigen Song von „The Sycamore Tree“ jubeln sie sogar noch dabei.
Doch was ist eigentlich an diesem Mythos dran?
Nichts. Zwar gibt es ungefähr alle vier Jahre Massenwanderungen und viele Lemminge kommen dabei ums Leben, allerdings liegt das nicht an ihren suizidalen Absichten. Wenn Lemminge im Pulk loslaufen, dann gehen sie instinktgetrieben in mäßigem Tempo stoisch geradeaus, um eine Rückkehr zum Startpunkt zu vermeiden. Stoßen sie jedoch auf Hindernisse wie breite Flüsse, drängen die nachfolgenden Tiere nach, Panik bricht aus und das Ergebnis ist eine Art Massenpsychose. In solchen Fällen stürzen Lemminge tatsächlich in die Fluten.
Lemminge sind allerdings ausgezeichnete Schwimmer, ihr Fell dient ihnen sogar als natürliche Schwimmweste. Trotzdem sterben bei längeren Strecken viele an Entkräftung und werden irgendwann dutzendweise an das Ufer gespült. Ein aufmerksamer Spaziergänger kann sich da schon wundern …
Disney, der Fabrikant von Kinderträumen, hat aufgrund dieser Beobachtung eine ganz eigene Theorie entwickelt und sie 1958 für den Dokumentarfilm „White Wilderness“ äußerst photogen nachgestellt. Die Regisseure fingierten den Nager-Marsch, indem sie einige Tiere auf eine Drehscheibe setzten und aus einem günstigen Winkel filmten. Anschließend fälschten sie den kollektiven Selbstmord und stießen die kleinen Tierchen dafür kurzerhand von der Klippe. Früher war also auch nichts besser, die Medienindustrie war schon damals quotenversessen und skrupellos. Es hat ja auch funktioniert, noch heute assoziieren wir Lemminge mit dummen, suizidal veranlagten Mitläufern.
Dabei sind Lemminge eigentlich sehr lebensfrohe Nager, die sich ausgiebig und vor allem gerne vermehren! Ein Weibchen bringt im Jahr bis zu 35 Junge zur Welt – was unter anderem daran liegt, dass die Art im Gegensatz zu anderen Nagetieren keinen Winterschlaf hält. Da bleibt eben mehr Zeit für die angenehmen Aspekte des Lebens.
Wenn die natürlichen Fressfeinde allerdings nicht mit dem Futtern hinterherkommen, dann hat solch ein ausgeprägter Vermehrungswille auch seine Schattenseiten. Die Population steigt sprunghaft an, obwohl Lemminge eigentlich lieber Einzelgänger sind. Auf einem kleinen Areal gehen sich die Tiere schnell auf die Nerven, werden aggressiv und kränkeln. Sie sind eben weder gesellschaftsfähig noch stressresistent. Bei Menschen würde Demophobie (also das Unwohlsein auf überfüllten Plätzen), soziale Inkompetenz und ein Burn Out diagnostiziert werden.
Lemminge bekämpfen diesen Zustand der psychischen Überlastung nicht mit Pillen, sondern mit der Flucht nach vorn. Sie laufen los, um sich einen neuen Platz zum Leben zu suchen. Sie sind demnach wohl eher unerschrocken und mit einem ausgeprägten Überlebenssinn gesegnet.
In der indianischen Mythologie kommen die Wühlmäuse übrigens weitaus besser weg, denn hier symbolisieren sie innere Bescheidenheit, stille Neugierde und die Fähigkeit, Details zu erkennen. Bei solch sympathischen Eigenschaften wünscht man den kleinen Viechern wirklich, dass sie beim nächsten ungewollten Schubbs in die Fluten einen echten, weißroten Schwimmring dabei haben, um wohlbehalten an einem rettenden Ufer anzukommen.
Evelyn Marunde / Marion A. Müller