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Poetisches Programm

Zur Eröffnung der Edition Reimzwang

Manchmal denke ich, wer heute Dichtung und Dichtertum wirklich ernst nimmt, der kehrt der Literatur den Rücken. Dies versierte Gefasel über Nichtigkeiten, diese Stilproben ohne Inhalt, sie haben etwas Blutleeres, denn das Leben selbst hat sich aus ihnen verabschiedet. Worin aber bestünde die Alternative?

Vielleicht in einer Literatur der Leidenschaft, der seelischen Abstürze und der wilden Erfahrung. Melville hat Menschen, die sich solcher Leidenschaft und Erfahrung aussetzen, in seinen Briefen „Gedankentaucher“ genannt. Wie der Wal, sagt Melville, gehen sie weit, weit hinunter, um endlich mit blutgefüllten Augen aus der Tiefe zurückkehren. Und von dort erzählen zu können.

Ich führe hier kein Argument gegen die Erfindung ins Feld, ganz im Gegenteil. Denn die Gabe der Erfindung wird durch die Intensität der Erfahrung ebenso gesteigert, wie sie in den Zirkeln der Feuilletons planmäßig verkümmert. Und wenn ich aus diesen Zirkeln hüsteln höre, das Thema und die Verantwortung des Schriftstellers sei nun aber die Sprache, dann muss ich herzlich lachen. Wollte jemand wirklich behaupten, das Thema des Bildhauers sei das Holz oder der Marmor? Wahr ist wohl vielmehr, dass der Dichter, der Schriftsteller in der Sprache jenes Vermögen besitzt, das ihm die Fähigkeit verleiht, vom großen Erlebnis überhaupt erst zu reden. Kunstfertigkeit ist also Voraussetzung und nicht Inhalt, geschweige denn Ziel.

 

Das große Erlebnis – es kann im Exzess bestehen oder in der Krise, in der großen Liebe, dem Wahnsinn, dem religiösen Grenzfall. Und dann mag es sich auch im Gespräch mit einer Katze finden, dem Sirren einer Stromleitung oder der Atemtiefe eines einsamen Abends. Das Geheimnis großen Erlebens ist immer dasselbe: Hingabe. Die aber lehrt niemanden schreiben, im Gegenteil. Vielmehr ist die Fähigkeit, vom großen Erleben zu schreiben, etwas, was die Beherrschung der Mittel unbedingt voraussetzt. Denn je intensiver das Fühlen, desto leichter gerinnt das Sprechen zur Banalität. Die Beherrschung der literarischen Mittel ohne Hingabe aber, ohne großes Erleben und also ohne Risiko, sie kommt mir vor wie eine Sünde wider das Talent.

Ich habe mich geritzt wie ein Borderliner, weil ich wissen wollte, wie das ist, Ritzen. Ich bin einmal drei Tage lang annähernd besessen gewesen, weil ich mit Hilfe von Trancetechniken eine Psychose nachvollzog, deren Inhalte dann nicht gleich wieder weichen wollten. Ich habe Krankheitssymptome in mir hervorgerufen und sie dann – langsamer, zugegebenermaßen, als sie entstanden waren – wieder verschwinden lassen können. Und um herauszufinden, was es mit AD(H)S auf sich hat und wie sich die Wirkung von Ritalin anfühlt, habe ich Ritalin genommen.

Dies alles ist nicht ungewöhnlich, und ich habe keinesfalls vor, damit zu prahlen. Es handelt sich einfach nur um etwas, was ernstzunehmende Dichter und Wissenschaftler, Therapeuten und Seelenforscher immer schon getan haben: Sich selber zum Medium nehmen, sich bis an die Grenze der Auflösung in Themen hinein begeben, um dann davon zu schreiben. Was aber aus solchen Erfahrungen entsteht, das ist relevante Literatur, große Dichtung. Und der Rest parfümiertes Gelall.

Von Georg Milzner

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