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Im Körper des Amokläufers

Interview mit Dirk Radtke

„Ich wusste manchmal nicht mehr, wo mir der Kopf steht, war hin- und hergerissen zwischen Trauer und Wut. Man will ihm eigentlich schon nach der Hälfte des Buches die Knarre in die Hand geben.“ Diese Wortmeldung zu Dirk Radtkes neuen Roman „Vergeltungsschlag – die Aufzeichnungen des Tobias B.“ ist symptomatisch: Die Leserinnen und Leser sind geschockt. Der Autor versucht in seinem Roman die Beweggründe eines jungen Amokläufers zu hinterfragen und ein mögliches Szenario zu liefern, welches ihn zu dieser Verzweiflungstat getrieben haben könnte. „Unser Sozialgefüge ist zerstört, bei vielen ist die Hemmschwelle bis auf ein Minimum gesunken.“ Und damit meint der Autor eben nicht nur diejenigen, die ausflippen, denn die medienwirksamen Gewalttaten sind doch meistens das Ende einer langen Tragödie und nicht deren Anfang. „Vergeltungsschlag“ ist nicht nur das dickste, sondern auch eines der aufwühlendsten Bücher, die bisher bei Periplaneta erschienen sind. Der Roman konzentriert sich auf die Folter hinter deutschen Gardinen, die doch eigentlich für alle sichtbar und alltäglich ist.

periplaneta: Wie bist du darauf gekommen, so ein Buch und dann auch noch aus der Ego-Perspektive zu schreiben?
Dirk Radtke: Der Amokläufer von Winnenden hat sein Magazin leergeschossen, nachgeladen und weitergeschossen. Das klingt zunächst einmal banal und nebensächlich. Dahinter steckt aber ein sehr komplizierter, vom Kopf gesteuerter Mechanismus. Ich behaupte einfach mal: Jeder Mensch kann, mit einem Revolver in der Hand, dazu gebracht werden, loszuballern, wenn die entsprechenden negativen Reize und das entsprechende Umfeld vorhanden sind. Hat er die Waffe aber leergeschossen, schaltet sich das Gehirn ein und erstattet den ersten Bericht darüber, was getan wurde. Es sagt dem Schützen, es wurden Menschen getötet, was aus einem Zustand der Rage passierte; eine Reaktion auf die provokanten Reize. Dann schaltet sich der Verstand dazu. Das Gehirn bildet ein Urteil, welches die Tat als schlecht wertet. In dem Moment würde der Schütze die Waffe fallen lassen oder wegwerfen. Was der Amokläufer von Winnenden aber nicht getan hat. Er hat diesen geistigen Vorgang, den ich an der Stelle als Gewissen bezeichnen möchte, bewusst ignoriert. Weil er töten wollte. An dem Punkt habe ich begonnen, über diese Thematik nachzudenken und in einem Buch zusammenzufassen. Die Wahl der Ego-Perspektive bot sich deshalb an, weil sie direkter erzählt und die Geschichte dem Leser näher gebracht werden kann, als es aus jeder anderen Erzählperspektive möglich wäre.

periplaneta: Die Erzählinstanz ist bei beiden Büchern, die von Dir bislang erschienen sind, dieselbe. Du befindest Dich quasi im Körper des Mörders. Diese Perspektive ist sicher nicht nur für den Leser sehr heftig, sondern auch für den Schreiber. Was ist dir schwerer gefallen? 


Dirk Radtke: Definitiv Vergeltungsschlag! Es mag vielleicht ungewöhnlich klingen, aber obwohl ich das Buch ja selber geschrieben habe, war es mir nach jedem erneuten Lesedurchgang immer wieder mulmig zumute.

periplaneta: Wie sah deine Recherche zu „Vergeltungsschlag“ aus?

Dirk Radtke: Ich hatte liebevolle Unterstützung vom Gelsenkirchener Jugendamt. Durch meine Anfrage bin ich direkt bei einer Fachkraft zum Thema Amoklauf an Schulen gelandet, die mich einen Einblick in die Arbeit beim Jugendamt nehmen ließ. Danach musste ich zwar das entsprechende Kapitel umschreiben, was es am Ende aber nur authentischer machte.

periplaneta: Jetzt bist du ja quasi ein Spezialist auf dem Gebiet. Glaubst du, man kann einen Amoklauf vorhersagen?


Dirk Radtke: Im Prinzip schon. Dazu aber müsste man den zukünftigen Täter ganz genau kennen, wissen, was er empfindet, wie er tickt, und was seine Probleme sind. Wären diese Voraussetzungen geschaffen, bräuchte der Amoklauf gar nicht vorhergesagt werden, denn dieses Wissen würde ausreichen, schon viel früher auf diesen Menschen unterstützend einzugehen. Leider kapseln sich diese Leute von ihrer Außenwelt ab, sodass ein Zugang zu ihnen kaum möglich ist.

periplaneta: Was muss sich in unserem System ändern, damit solche Taten nicht mehr passieren? 


Dirk Radtke: Ursächlich betrachtet treibt uns das zunehmende Ich-Denken in die Vereinsamung. Mehr Menschlichkeit wäre gefragt, in Verbindung mit mehr Interesse füreinander. Symptomatisch mangelt es an ausreichendem Fachpersonal, also an Lehrern, Kindergärtnerinnen etc, die auffällige Veränderungen junger Menschen erkennen und darauf eingehen. Die Jugendämter sind aufgrund fehlenden Personals überhaupt nicht in der Lage, eine individuelle Betreuung zu gewährleisten, wie es die jüngsten Ereignisse zeigen. An all diesen Punkten müsste ordentlich geschraubt werden. Dazu ein bisschen mehr miteinander und die richtige Richtung wäre schon einmal gewählt.

periplaneta: Warum kommen Gewalttaten dieser Art immer häufiger vor? 


Dirk Radtke: Ich denke, die Hemmschwelle, Gewalt auszuüben ist generell gesunken. Das betrifft in dem Fall diejenigen, die einen Menschen mobben, quälen, foltern und misshandeln, und die Grenze dessen um Längen unterschreiten. Aber es betrifft genauso denjenigen, der sich schließlich in gleicher Weise dafür rächt. Gewalt erzeugt Gegengewalt. Das ist keine Lösung. Aber leider zu oft Realität.

periplaneta: Die Schluss-Sequenz von „Vergeltungsschlag“ in Form eines Polizeiberichts ist zugleich der Klappentext des Buches. Ist es nicht problematisch, dass man das Ende des Romans bereits kennt?


Dirk Radtke: Nein, denn dadurch wird die Frage nach dem Warum nur intensiviert.

periplaneta: War es deine Intention, Verständnis für einen Amoklauf zu wecken? 


Dirk Radtke: Nein, der Grundgedanke war, das Leben eines Amokläufers zu beschreiben und den Hintergrund zu beleuchten, warum er zu einem solchen wurde. Dabei wurden der Täter zum Opfer, und die Opfer zum Täter. Der darauffolgenden Lösung dieses Konfliktes kann nicht mit Verständnis begegnet werden, denn Gewalt ist in keinem Fall eine Lösung.

periplaneta: Glaubst du, es bringt etwas, Gewaltdarstellungen und „Ballerspiele“ zu verbieten?
Dirk Radtke: Nein, überhaupt nicht. Wer sich zu so einer Verzweiflungstat entschließt, tut das nicht wegen eines Films oder wegen eines Ballerspiels, denn dann würde es ja auf dieser Welt nur so von Amokläufern wimmeln.

periplaneta: Oft möchten Amokläufer so viel Presseaufmerksamkeit wie möglich erreichen. Sie erreichen damit eine für sie befriedigende Form von Ruhm, ja manchmal sogar Kultstatus. Manche Medien entschließen sich daher, nicht zu berichten, damit keine Plattform gebildet wird. Wie sollten die Medien mit einem Amoklauf umgehen?
Dirk Radtke: Es sollte sachlich und unvoreingenommen darüber berichtet werden. Amokläufer werden nicht geboren, um nach siebzehn Jahren plötzlich loszustürmen. Es gibt Ursachen, die es zu ergründen gilt, worüber berichtet werden muss, um weitere Taten zu verhindern. Und das sind keine unverschlossenen Waffenschränke, Ballerspiele oder eine Mitgliedschaft in einem Schützenverein.

periplaneta: Vielen Dank für das Gespräch. 


Dirk Radtke: Dir auch vielen Dank. Danke auch an alle, die meine Werke lesen und mich dadurch zum Weitermachen motivieren.

Das Interview führte Jennifer Bühsing.

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