Ein Interview mit Hanna-Linn Hava.
Frau Havas Roman „Schneewittchens Geister“ ist ein sehr vergnügliches Fantasy-Spektakel, in dem sich diverse uns wohlbekannte Märchenfiguren in einer modernen Welt unter anderem mit Auftragsmördern und Gewichtsproblemen herumschlagen müssen.
Widersprüchliche Biografien erklären die Autorin einerseits als Würth-Literaturpreisträgerin, andererseits behaupten sie, dass sie bei einem Biss von einem genmanipulierten Tagpfauenauge mit einem unheilbaren Überschuss an Fantasie infiziert worden sei. In einem Gespräch mit Franziska Dreke äußert sich Hanna-Linn Hava zu diesen schillernden Seiten ihres Lebenslaufes, erklärt, warum Märchen nach wie vor in sind und mit welchen ihrer Charaktere sie gern mal einen Kaffee trinken würde.
„Schneewittchens Geister“ spielt mit den Genres und Klischees, in die man Literatur einordnet und an dem sich Leser ja auch orientieren. Wie würdest Du einem Interessierten helfen, ohne allzuviel von der Geschichte zu verraten?
H-LH: Wie bestimmt viele Autoren hatte ich die Absicht, ein Buch zu schreiben, welches ich selbst vergnüglich lesen würde. Und da mich nichts mehr langweilt als vorhersehbare Charaktere und allzu einfache Genre-Zuordnungen, vermeide ich diese. Hingegen faszinieren mich abseitige Persönlichkeiten; von denen packe ich deswegen gleich eine ganze Menge in die Geschichte. Und weil die Protagonisten so bunt sind, spielt die Handlung in Dunkelheit und Schnee. Kurz zusammengefasst: Sonderbare Leute (von denen einige keine Leute sind) treffen in düsterer Kulisse aufeinander. Und dann passiert eine ganze Menge.
Kann man dein Buch vielleicht auch als ein modernes Märchen verstehen? Schließlich geht es immer noch um den alten Kampf zwischen Gut und Böse …
H-LH: Gut und Böse sind in „Schneewittchens Geister“ weniger schwarz und weiß gezeichnet, und auch die Protagonisten sind nicht gerade die klassischen Vertreter der dunklen oder hellen Seite. Vor allem die Prinzessinnen müssen sich größtenteils ohne Hilfe der obligatorischen Prinzen herumschlagen – wobei „herumschlagen“ ganz wörtlich gemeint ist. Und wer sagt eigentlich, dass auch das Ur-Schneewittchen nicht ab und zu Selbstmord in Betracht gezogen hat, bei dem schrecklichen Schicksal! Aber so verändern sich eben die Zeiten, und die Märchen verändern sich mit ihnen…
Haben Märchen heutzutage überhaupt noch eine Bedeutung?
H-LH: Haben sie, eine wichtige Bedeutung sogar. Für Kinder sind die klassischen Märchen mit Sicherheit immer noch eine Bereicherung. Ich habe ihnen früher selbst begeistert gelauscht, wenn sie uns vorgelesen wurden (mein Lieblingsmärchen war „Jorinde und Joringel“), und ich habe sie später nicht minder begeisterten Kindern erzählt. Und anscheinend besteht nach wie vor eine Sehnsucht nach Geschichten – in den letzten Jahren vermehrt nach jenen, in denen Magie und Mythen zum Leben erweckt werden. Vermutlich genau deswegen, weil die Menschen einen Ausgleich zu ihren entzauberten, technikdominierten Leben brauchen.
Und sind nicht alle Geschichten irgendwo und irgendwie Märchen?
Wahrscheinlich schon. Was „Schneewittchens Geister“ betrifft: ist das Buch nun eher ein modernes Märchen für Erwachsene oder eine Märchen-Persiflage, die mit den gängigen Weichspülelementen des klassischen Märchens bricht und diese durch explizit blutige Schockmomente ad absurdum führt?
H-LH: Definitiv: beides! Wobei ich sofort anmerken möchte, dass die alten Volksmärchen selbst recht brutal daherkommen; weichgespült wurden sie ja erst durch diese bekannten Zeichentrickversionen, in denen alle singen. In den Märchenbüchern wird munter Blut vergossen und gestorben, es gibt brachiale Strafen für die Bösen und dramatische Prüfungen für die Guten. Insofern verfolge ich eigentlich nur brav die Tradition, wenn ich nicht zimperlich mit meinen Protagonisten umgehe. Womit ich aber tatsächlich und bewusst breche, ist die oft zu simple Moral. Moral ist inzwischen etwas hochkomplexes; unsere Gesellschaft ist mittlerweile ausgezeichnet informiert und gebildet, was bedeutet, dass wir auch komplexe Lösungen für Konflikte verstehen und verdienen.
Eine weiße, perfekt gestylte Hexe, ein aalglatter und charismatischer Auftragskiller, ein geistesgestörter Prinz mit einem blutigen Hobby – im „Schneewittchen“ treiben sich eine Menge komischer Gestalten herum. Hast du eine Lieblingsfigur oder eine, in der vielleicht auch etwas von dir selbst steckt?
H-LH: Möglicherweise ist jede Figur ein kleiner Aspekt meiner Persönlichkeit. Vielleicht bin ich insgeheim so zutiefst sarkastisch wie der Killer, aber zu nett, um das auszuleben. Vielleicht kompensiere ich meine eigenen Anwandlungen von Lebensmüdigkeit über mein suizidales Schneewittchen. Vielleicht auch nicht. Jedenfalls habe ich zu jedem einzelnen Charakter während des Schreibens eine innige Beziehung entwickelt, sogar zu den Ghulen. Aber ich würde mit keinem einzigen von ihnen zusammenleben wollen. Wenn man mich zwingen würde, zu wählen, würde ich sagen: Okay, mit den Prinzessinnen gehe ich gern mal einen Kaffee trinken. Und die weiße Hexe könnte mir Make-Up-Tipps geben. Das nächste Mal engagiere ich weniger kapriziöse Charaktere!
Wie hast du die Arbeit am „Schneewittchen“ im Gegensatz zu der an deinem Gedichtband „Trotzigschön“, der im letzten Jahr errschien, empfunden? Gab es da Unterschiede?
H-LH: Vom Typ her gehöre ich zu den impulsiven Spontankreativen, das heißt, wenn mich die Inspiration ruft, dann folge ich und arbeite völlig versunken stundenlang an was auch immer, bis es eben fertig ist. Das funktioniert mit Zeichnungen, mit Gedichten, ja, sogar mit Kurzgeschichten und Gemälden. Mit einem Roman funktioniert das nicht. „Schneewittchens Geister“ war in vielerlei Hinsicht das anstrengendste, was ich jemals produziert habe. Ich musste eine Handlung konstruieren, an der ich ganze zwei Jahre gefeilt habe. Ich hatte eine Vielzahl von Persönlichkeiten zu managen. Und es gab immer wieder Stellen, an denen ich enorme Probleme hatte, weiterzuschreiben. Bei einem Bild hätte ich alles wieder übermalt und noch mal neu angefangen. Hier musste ich mich durch die Durststrecken quälen. Dieser erste Roman hat mich also einiges an Nerven gekostet und einiges gelehrt: Disziplin, zum Beispiel. Geduld. Die frühen Morgenstunden zu nutzen. Alles Tugenden, die ich früher belächelt hätte.
Neben dem Schreiben malst und synchronsprichst du auch noch – wie vereinbarst du das alles miteinander im Alltag, und was ist eigentlich dein Hauptberuf?
H-LH: Mein Alltag besteht aus all diesen kreativen Tätigkeiten, wahrscheinlich handelt es sich dabei darum nicht um einen Alltag im herkömmlichen Sinn. So gesehen ist die Kreativität mein Hauptberuf. Wie das so genau funktioniert, weiß ich auch nicht. Manchmal muss ich mir einen Groschen dazuverdienen, indem ich Babysitter für den Nachwuchs der benachbarten Warzengnome spiele. Die gute Bezahlung entschädigt für die Bisswunden, außerdem habe ich oft Zeit, zu schreiben, während die kleinen Biester schlafen.
Apropos Warzengnome: Wie erklärst du dir eigentlich, dass zwei sich völlig widersprechende Biografien von dir existieren? Und wie kamst du nach deinem Wanderzirkus-Leben, dem Züchten von Seegurken und Oxymoronen und dem Café für Geister ausgerechnet auf die Idee, Bücher zu schreiben?
H-LH:Die eine Biografie ist natürlich frei erfunden, nämlich die, in der ich behaupte, in Stuttgart geboren zu sein und Freie Malerei studiert zu haben. Aber nachdem ich herausfand, dass sowohl die Kunst der Irrlichterjonglage als auch Gespräche mit Yetis im Lebenslauf nur zu irritierten Fragen führen, musste ich mir einen ausdenken, der mehr den gesellschaftlichen Normen entspricht. Nun ist meine wahre Vergangenheit also wieder ans Licht gekommen… Wenn man diese kennt, ist es aber doch nicht verwunderlich, wenn ich mich inzwischen nach etwas Ruhe und Abgeschiedenheit sehne, um aus meinem reichen Erfahrungsschatz schöpfend Geschichten zu Papier zu bringen. Ich kann aber zukünftige Leser beruhigen: Das Kapitel über die Seegurkenzucht werde ich nie einfließen lassen, das ist dann doch zu unappetitlich.
Das lässt zukünftige „Schneewittchen-Fans“ sicherlich beruhigt aufatmen. Planst du weitere literarische Projekte mit Periplaneta, ja sogar vielleicht neue Abenteuer um die Schneewittchen-Clique?
H-LH: Ich hoffe selbstverständlich, dass dieser Roman nur der erste von vielen sein wird! Ideen hätte ich für mindestens eintausendundeine Geschichte; die praktische Umsetzung ist ein anderes Kapitel. Momentan arbeite ich bereits beinahe ausreichend diszipliniert an einem zweiten Manuskript, das aber mit „Schneewittchen“ so gar nichts zu tun hat. Dafür war ich einfach zu erleichtert, als ich diese ganzen Verrückten endlich alle so weit hatte, sich mit einem abgeschlossenen Ende zufrieden zu geben. Allerdings ist mir natürlich bewusst, dass ich nicht zu allen von ihnen fair war und die eine oder der andere eine Zukunft verdient hat. Tatsächlich besteht bereits schon länger eine grobe Handlung für eine Fortsetzung…
Wie vielversprechend! Liebe Hanna-Linn Hava, vielen Dank für das Interview.