
(Von Christoph Eydt) In seinem Buch „Sokratesk“ lässt Autor Christoph Eydt den antiken Philosophen Sokrates wiederauferstehen und auf verschiedene Menschen in unserer gegenwärtigen Gesellschaft los. Er beackert mit der sokratesken Hebammenkunst – also mit dem Fragen, bis dass der Becher einen scheidet – damit Themen und Befindlichkeiten unserer Zeit. Diese Rede hat Sokrates aber erst gehalten, als das Buch schon fertig war …
„Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Gäste,
Abgeordnete,
vor nicht allzu langer Zeit hat man mir einen Sinnspruch nachgesagt. Ob er tatsächlich von mir stammt, weiß ich nicht. Das ist auch überhaupt nicht wichtig. Wichtig ist die Aussage, welche dem Anlass dieser Rede sehr nahe zu stehen scheint. Das Zitat lautet: ‚Ein Leben, das nicht kritisch untersucht wird, ist es nicht wert, gelebt zu werden‘.
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
diese Aussage kommt nun doch ziemlich hart daher und entzieht erstmal allen Leben, die nicht kritisch untersucht werden, das Existenzrecht. Vielleicht geht es aber auch nur um eine Wertigkeit. Ich stehe heute vor Ihnen, weil das Volk der Dichter und Denker jene kritischen Untersuchungen, die das Leben betreffen, allem Anschein nach nicht mehr so recht wagt. Ich frage Sie, wo in diesen Zeiten sind Persönlichkeiten wie Kant, Hegel oder Schopenhauer? Ich frage auch: Will niemand mehr kritisch forschen?
Aus meiner Erfahrung, und die hat Hand und Fuß, schließlich musste ich für mein Streben mit dem Leben zahlen, braucht es die Kritik – mehr haben wir nicht. Wir können uns immer wieder tolle Pläne ausdenken, Strategien entwickeln, Visionen haben und Dinge durchsetzen. Wir können Theorien bilden über alles. Unser Kausalitätsstreben bedingt zweifelsfrei eine Radikalisierung desselben. Was nicht passt, wird passend gemacht.
Auf der politischen und gesellschaftlichen Ebene – und ich will hier gar nicht ausschweifen – sehe ich eine Verfestigung der Linearität. Es scheint, als würde ein Fluss zufrieren. Die Kritik könnte die Spitzhacke sein, mit der wir nun den Fluss öffnen könnten, doch wie setzt man so ein Werkzeug überhaupt ein in Zeiten, in denen es nicht um das gemeinsame Forschen geht, sondern um Ansprüche und Demonstrationen der Überlegenheit?
Sie können vielleicht hier und da in ausgemachten Nischen kritisch arbeiten. Doch schon im alten Griechenland wusste man, dass Philosophie die Basis des Staats sein müsse. Philosophie als Kunst des Nachdenkens, als Logik oder eben auch als die Möglichkeit kritischer Untersuchung sollte keine akademische Disziplin sein, die man allzu schnell verbannen kann in den Elfenbeinturm der Halbbildung. Danke Adorno!
Nein, Philosophie sollte als Möglichkeit des Nicht-Wissens anerkannt und gesellschaftlich positioniert werden. Wir brauchen wieder Mut zur Kritik – zu echter Kritik. Was kann man darunter nun verstehen?
Liebe Mitglieder dieser politischen Institution, ich habe bisher einige Ihrer Debatten am TV verfolgt. Das Bemühen um Standortbestimmungen scheint Grundlage der Diskussionen zu sein. Sie beschießen sich rhetorisch gegenseitig. Und ich frage Sie: Ist das wirklich der Sinn politischer Debatte? Wo bleibt hier die Untersuchung? Die Kritik? Sind Sie denn nur hier, um lauthals herumzuschreien? Mir scheint, dass das politische System der Gegenwart unter Egomanie leidet. Politik verkommt zu einem Geschäft mit Meinungen und Auftritten. Es wirkt, als sei die Frage zentral: Wie komme ich bei wem gut an?
Warum wird nicht gemeinsam kritisch untersucht? Auch unter diesem Banner können Sie Ihre kleinen Parteispielchen aufrechterhalten. Doch würden Sie die verbrennenden systematischen rhetorischen Gegenüberstellungen lassen, bei denen eh nur auf schlechteste Weise argumentiert wird. Ich bezweifle, ob man überhaupt von Argumenten reden kann, denn – soweit mein Anspruch – Argumente folgen einer kritischen Untersuchung und sind gleichzeitig Gegenstand weiterführender Untersuchungen. Ich vermisse bei Ihnen die Kritik, die gezielte Suche nach der nicht mehr haltbaren Logik eigener Standpunkte, Meinungen und Perspektiven. Kritik darf nicht dazu verkommen, Meinungen auszutauschen.
Allenthalben gilt Kritik als die Beurteilung eines Gegenstandes oder einer Handlung anhand von Maßstäben. Diese Maßstäbe tragen wir alle mit uns herum und bewerten tun wir ständig, somit ist diese Bedeutung von Kritik obsolet. Darum ist die Ergänzung der Untersuchung essenziell. Sie brauchen das ergebnisoffene Forschen – frei von Zielen oder Absichten, einfach aus der Möglichkeit heraus, zu wissen, dass das, was man sich zurechtdenkt, nicht sein kann. Auch neuere Theorien wie der radikale Konstruktivismus können an der Sachlage wenig ändern, wenngleich Objekte Wahrheiten ausgeschlossen werden. Damit kann man sich zwar in gewisser Weise annähern, aber ich frage Sie: Ist es nicht schon eine unausgesprochene Wahrheit, zu sagen, es gäbe keine objektive Wahrheit?
So verhält es sich mit allem und Ihre politischen Zustände demonstrieren die gesellschaftlichen Folgen des konsequenten Bestrebens um selbstinduzierte Wahrheiten. Ich spreche nur von Möglichkeiten, doch Sie wollen Wahrheit. Auf der Suche nach ihr, gehen Sie über Leichen – jede Seite, jede Person hier. Ich kann Ihnen sagen, was Ihr Problem ist: Sie gehen in kausaler und damit ausschließender Logik vor, die nur zerstörerisch sein kann. Sie legen sich eine Wahrheit zurecht und leiten dann Handlungskonsequenzen ab. Ob die Wahrheit stimmt oder nicht, spielt keine Rolle mehr und die Flucht in Überzeugungen ist gelungen. Doch damit haben Sie sich entfernt, weil Sie jenen kleinen Punkt benötigen, auf den Sie sich beziehen müssen, um Ihre Aussagen legitimieren zu können. Doch schauen Sie sich einen Punkt genauer an. Ich werde hier nichts vorwegnehmen. Untersuchen Sie ihn! Nur so viel: Wundern Sie sich nicht, wenn er weg ist.
In diesem Sinne: Bitte werden Sie wieder kritisch und vergessen Sie Meinungen.
Vielen Dank!“
- Sokratesk – Wider die Besserwisserei!10,99 € – 14,50 €