Ein Peripherieartikel über Waschbären.
Am 12. April 1934 entließ Forstmeister Wilhelm Freiherr Sittich von Berlepsch am hessischen Edersee vier nordamerikanische Waschbären in die Freiheit. Den vorgebrachten Grund, das Bereichern der heimischen Fauna, schien man damals für eine ehrenwerte Sache zu halten. Elf Jahre später entkamen gut 25 Exemplare aus einer brandenburgischen Pelztierfarm. Hier und da passierte dann und wann wohl Ähnliches und jetzt haben wir den Salat: Heute gehört Procyon lotor offiziell zu den „100 schlimmsten invasiven Arten“ in Europa. Er hat bei uns keine natürlichen Feinde, und an neue Nahrung und Lebensräume passt er sich dermaßen gut an, dass er sich in weiten Teilen Deutschlands wohlfühlt.
Jäger, Förster, Tierschützer und Zoologen streiten sich aber darüber, wie schädlich er tatsächlich ist. Viele sind der Meinung, dass er durch seine Nesträuberei und Baumbesetzung einheimische Vögel gefährde. Andere behaupten, dafür gäbe es keinerlei Beweise, und setzen sich dagegen ein, dass der Waschbär frei bejagt werden darf. In Hessen war das bis 2015 erlaubt, die Ausbreitung wurde damit aber nicht aufgehalten. In seiner ursprünglichen Heimat war schon längst bekannt, dass unbeschränkter Abschuss nur zu einer höheren Geburtenrate führt. Wenn mehr Waschbären sterben, dann werden mehr Waschbären geboren.
Hübsch ist er ja, dieser possierliche Kleinbär! Und ist es nicht reizend, wie er sein Futter wäscht? Dabei tut er das gar nicht. Jeder Waschbärenhalter kann bezeugen, dass die Tiere ihr Futter gern im Gehege verteilen und sich einen Dreck um den Dreck scheren. Fakt ist, dass nur in Gefangenschaft lebende Waschbären ihre Nahrung vor dem Verzehr ins Wasser tunken. Wahrscheinlich imitieren sie damit die Futtersuche an flachen Uferstellen, die ihnen instinktiv in Erinnerung ist. Trockenes und hartes Essen feuchten sie außerdem gern an. Und noch einen Zweck hat das Wasser: Es weicht die dünne Hornhaut ihrer Vorderpfoten auf, sodass ihr ohnehin feiner Tastsinn ihnen vor der Mahlzeit noch mehr verraten kann. Die taktilen Fähigkeiten des Waschbären sind sein wichtigster Sinn. Tatsächlich ist kein anderes Tier bekannt, von dessen Großhirnrinde ein derart großer Teil auf die Interpretation von Tastreizen entfällt. In Verbindung mit einer nicht zu verachtenden Intelligenz sind Waschbären deshalb zum Beispiel in der Lage, Verschlüsse zu öffnen. Auch in anderen Tests, die sonst nur Rabenvögel und Menschenaffen erfolgreich absolvieren, sind sie überaus erfolgreich, lassen sich sogar mitunter ganz neue Wege einfallen. Und sie können sich noch Jahre später an die Lösung einer Aufgabe erinnern.
Es ist nicht verwunderlich, dass ein so gerissener Anpassungskünstler auch in Städten bestens zurechtkommt. Gärten und Mülltonnen bieten unerschöpfliche Futterquellen, während Geräteschuppen, Garagen und Dachböden zur Übernachtung und Vermehrung einladen. Da kann es passieren, dass der Komposthaufen zerwühlt, der Müll ausgeräumt und der Rasen verwüstet wird, dass es nachts von oben poltert und die Dämmwolle in Fetzen liegt. Wer Waschbärenkacke im Haus findet, sollte sie mit Handschuhen aufsammeln und verbrennen, da sie Krankheitskeime und Parasiten übertragen kann. Einzelne Tiere zu töten ist bei uns in den meisten Fällen nicht nur verboten, sondern hat auch keinerlei Wirkung. Denn es gibt unter Garantie weitere Waschbären, die den fraglichen Schlafplatz kennen – oder bald für sich entdecken.
Da hilft oft nur, sich zu überlegen, wie man den maskierten Räubern die Anreize nehmen kann und wie man sie daran hindert, unerwünschte Unterschlüpfe zu erreichen. Mülltonnen abzuschließen und Äste abzusägen, die zum Erklettern des Dachbodens einladen, sind zwei der einfachsten Maßnahmen. Der Waschbär ist längst ein fester Bestandteil unserer Tierwelt und uns bleibt nichts anderes übrig, als mit ihm zurechtzukommen. Wer könnte diesen goldigen Knopfaugen auch böse sein, nur weil ihr Träger die Dämmwolle aus dem Dach gerupft und sich ein warmes Nest daraus gebaut hat?
Von nordamerikanischen Wäldern bis in unsere Häuser war es ein langer Weg. Die Waschbären haben viel mitgemacht. Dem Äußeren nach wohl ganz besonders jenes Exemplar, das das Cover von Marien Lohas Roman „Waschbär im Schlafrock“ ziert. Eines Morgens lag er einfach auf Karls Sofa: Auf einem Auge blind, ein Ohr zerfetzt, zerzaustes Fell – „Ein Veteran. Ein Veteranenwaschbär. Ein Waschbärveteran.“ Was tut man in so einer Situation? Wer das Buch liest, wird zumindest erfahren, was Karl getan hat. Es sei verraten, dass er weder die Mülltonnen verschlossen noch seine Bäume gestutzt hat.
Ein Peripherieartikel von Alexander Blumtritt.
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