Periplaneta besucht das Poesiefestival Berlin.
Am vergangenen Wochenende haben wir uns exklusiv der Poesie zugewandt und den Beweis dafür gefunden, dass Lyrik alles andere als tot ist, sondern quicklebendig sein kann. Vanessa war als Abgesandte der Periplanetaner bei zwei Veranstaltungen live dabei und sperrte als bekennende Lyrikliebhaberin (und stolz darauf) gebannt Augen und Ohren auf.
Tag 1: Freitag, 16.06.2017
Auf der Veranstaltung „Weltklang“ im Rahmen des Poesiefestivals Berlin wird diese Gattung der Herzen dank zeitgenössischer Dichterinnen und Dichter aus aller Welt und einem saalfüllenden Publikum in großem Stil zelebriert.
Bewaffnet mit Textbüchlein zum Mitlesen und aufklappbarer Leselampe – praktisch notwendig, da die Künstler in Originalsprache vortragen werden – suche ich mir einen Platz im großen Saal der Akademie der Künste.
Den Abend eröffnet eine orientalisch angehauchte Version der Europahymne, gespielt auf der Trompete eines kubanischen Musikers. Sie erinnert mich an das diesjährige Motto des 18. Poesiefestivals: Europa.
Es folgt eine Kreuzung aus philosophischem Dialog und intimem Briefwechsel, vorgetragen von der gerade einmal 25-jährigen flämischen Dichterin Charlotte van den Broeck und Arnon Grünberg, einem der derzeit erfolgreichsten Autoren der Niederlande. Die beiden tauschen sich über politische Vorstellungen, genauso wie über Liebe und Empathie aus, und scheinen sich dabei ständig auf der Grenze zwischen einem öffentlichen und einem privaten Gespräch zu bewegen.
Ist Eurozentrismus gefährlich? Braucht der Schriftsteller ein Vaterland? Was hat Schreiben mit Scham zu tun? Muss man jemandem weh tun, den man liebt? Fragen über Fragen. Mögliche Antworten werden angeschnitten und sogleich wieder hinterfragt – mein Gehirn arbeitet auf Hochtouren und ich suhle mich ein bisschen in intellektueller Inspiration.
„Weltklang“ rühmt sich damit, die „poetische Vermessung der Welt“ zu sein und hat große Namen der internationalen Poesieszene geladen. Unter anderem Jan Wagner, der es als erster Lyriker unter die Preisträger der Leipziger Buchmesse schaffte – Respekt!
Wie van den Broeck schon zu Beginn mit irgendwie schrulligem und zugleich bezauberndem Akzent konstatierte: Poesie ist die freieste Form der Kunst, weil es keinen Markt für sie gibt. Entsprechend divers fallen dann auch die künstlerischen Darbietungen aus. Während sich die mitteleuropäischen Dichter, wie es das Klischee so will, eher an Wasserglas und Mikroständer klammern, trauen sich Yasuki Fukushima aus Japan oder M. NourbeSe Philip aus Trinidad und Tobago ein wenig mehr Körperlichkeit zu und performen mit vollem Einsatz. Höhepunkt: Fukushima schmeißt rockstarmäßig den Mikrofonständer auf den Boden, um ihn gleich darauf wie schuldbewusst wieder aufzurichten. Das Mitlesen der deutschen Übersetzung und gleichzeitige Zuschauen wird zu einer Herausforderung.
Auch interessant: Je weiter sich die Poesie vom Zentrum Europa entfernt, desto politischer scheint sie zu werden, zumindest an diesem Abend. Nach drei intensiven Stunden schließt wiederum Charlotte van den Broeck das Programm mit einem elfengleichen Vortrag ihrer sensiblen und klugen Liebes- und Lebensgedichte ab und lässt mich schwärmend zurück. Der Abend klingt noch eine Weile nach – wie ein gutes Gedicht eben.
Tag 2: Sonntag, 18.06.2017
Nur zwei Tage später mache ich mich erneut auf zur Akademie, diesmal in brütender, sonntäglicher Mittagshitze. Ich will die Wiederholung der Veranstaltung vom Vorabend sehen: „Drei D Poesie“. Es verspricht, weniger kopflastig zu werden als am Freitag, denn hier soll Poesie auf Tanz und Performance treffen. Internationale Tänzer und Musiker haben mit in Berlin lebenden Dichtern zusammengearbeitet und dreizehn genreübergreifende Produktionen geschaffen, von denen auf dem Poesiefestival nun drei uraufgeführt werden.
Wie lassen sich Worte in Körpersprache übersetzen? Und was vermögen Musik und Tanz über die Stimme hinaus, vielleicht sogar besser zu sagen? Atmosphärische Klänge und die prägnante Stimme der Dichterin Herta Müller tönen collagenartig aus den Lautsprechern, während die Tänzerin und Choreographin Anna Huber ein Gedicht von Müller über die Bühne tanzt. Bedachte, präzise Bewegungen und Formen anstatt großem Theater ziehen mich in ihren Bann. Ich versuche, Zusammenhänge herzustellen: Das Gedicht ist eine Collage aus Zeitungsausschnitten, die performative Umsetzung ebenso fragmentarisch. Mittendrin plötzlich eine Technikpanne. Kurze Verwirrung meinerseits: Gehört das jetzt zur Performance? Nein, das sei noch nie vorgekommen, entschuldigt sich der Keyboarder, der für die Atmo-Klänge verantwortlich ist. Weiter geht’s, der Stimmung hat es nicht geschadet, obwohl das Baby in den hinteren Reihen weiter weint.
Bei der nächsten Performance werden die Bezüge klarer, denn die israelische Tänzerin Maya Matilda Carroll und der US-amerikanische Lyriker Christian Hawkney interpretieren die Schriften von Charlotte Wolff, einer Ärztin, Sexologin, Schriftstellerin und Forscherin zur Hand- und Gestenpsychologie des frühen 20. Jahrhunderts. Eher kleine als große Gesten, die an Gebärdensprache erinnern, bestimmen die Performance und öffnen einen weiten Bedeutungsspielraum. „The gesture of mistaking a man’s body for a woman“, tönt es aus dem Lautsprecher. Es ist nur ein Beispiel für die Vieldeutigkeit und Komplexität, die alltägliche Gesten mit sich tragen können.
Nach einer kurzen Umbaupause wird es ein wenig lauter und prätentiöser. Ein drahtiger Taiwanese wirbelt ungemein energetisch um ein Streichquartett herum, das die Kompositionen eines finnischen Musikers zum Besten gibt, während sich der deutsche Lyriker Daniel Falb mal an den Bühnenrand, mal auf einen Stuhl kauert – die Beine immer eng übereinandergeschlagen – und sein Gedicht murmelt, welches für meine Ohren wie eine hermetische, nach Bedeutung heischende Aneinanderreihung von Wortfetzen klingt. Ich versuche meine, bei jedem weiteren trockenen Schmatzer Falbs aufkeimende, Aggression im Zaum zu halten und konzentriere mich auf den beeindruckenden Shang-Chi Sun aus Taiwan, dessen schweißtreibende Bewegungen mit dem bloßen Auge kaum noch verfolgbar sind.
Schließlich erklingt der warmherzige Applaus eines Nachmittagspublikums und ich bin glücklich. Darüber, dass ich gerade große Kunst erleben durfte. Eine Kunst, die in Bewegung bleibt und sich dem Stillstand verweigert. Und irgendwie auch darüber, dass Daniel Falb zu lesen aufgehört hat.
Noch bis Samstag, den 24. 6.
Wer gern noch das Poesiefestival besuchen möchte, hat noch bis Samstag 24. Juni Zeit. Das Programm findet ihr hier. Den Abschluss des Festivals bildet der Lyrikmarkt. Samstag ab 15.00 Uhr wird ein vielfältiges Bühnenprogramm mit Lesungen, Musik und Performance sowie Workshops für Kinder geboten. Und auch wir präsentieren an einem Stand mit Lyrik-Büchern aus unseren Editionen Reimzwang und MundWerk.
Der Lyrikmarkt richtet dieses Jahr sein Augenmerk speziell auf Künstlerinnen und Künstler aus der Kulturmetropole Dresden und bietet diesen in Kooperation mit dem Dresdner Literaturhaus Villa Augustin die Möglichkeit, sich zu präsentieren und zu vernetzen.
Der Lyrikmarkt findet in der Akademie der Künste statt, Hanseatenweg 10. Der Eintritt ist frei.
Vanessa Franke