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Ich hab dich zum Fressen gern!

cklkh fischer

Kannibalismus in Europa.

Als 2006 Armin Meiwes als ‚Kannibale von Rothenburg‘ durch die Medien bekannt wurde, ging ein regelrechter Aufschrei durch die Öffentlichkeit. Die Tatsache, dass sich Menschen im 21.Jahrhundert angesichts des Lebensmittelüberflusses gegenseitig angeblich freiwillig aufessen, ließ tief in die Abgründe menschlichen Miteinanders gucken.
Kannibalismus ist eines dieser schaurig-entsetzlichen Themen, bei denen man gar nicht hinhören möchte, es aber doch tut, weil die Neugier an Groteskem uns dazu zwingt. Er gilt als wildes Gegenbild zur Zivilisation.

per kannibal 700px-DBP_1961_371_Wohlfahrt_Hänsel_und_GretelVielleicht greift Kunst gerade deshalb dieses Thema immer wieder auf, wie z.B. Patrick Süßkind in „Das Parfum“ oder CKLKH Fischer in „Grosse Kannibalenschau“ . In letzteren liegt der historische Schauplatz in der Zeit des Kolonialismus, als ‚typisch Einheimische‘ von ihren Kolonialherren verschleppt und in Gehegen öffentlich ausgestellt wurden. In diesen Menschenzoos wurden die ‚Wilden‘ durch die Zuschauer pauschal entmenschlicht und dienten so als Rechtfertigung für die Kolonialpolitik Deutschlands.

In einer industrialisierten, zivilisierten Gesellschaft gibt es keinen Kannibalismus, so der allgemeine Konsens. Doch weit gefehlt. Wie der ‚Kannibale von Rothenburg‘ beweist, gibt es bis heute vereinzelte Fälle und bis ins 19. Jahrhundert gab es sogar in weiten Teilen Europas ‚Menschenfresserei‘ in großem Ausmaß.

Anthropologen unterscheiden drei Grundtypen: Hungerkannibalismus, den rituellen und den medizinischen Kannibalismus.

Hungerkannibalismus kommt in Zeiten vor, in denen es ums nackte Überleben geht. Während langjähriger Kriege und extremen Hungersnöte kam es sogar zur verzweifelten Plünderung von Friedhöfen oder es wurden Gehängte vom Galgen geschnitten. Ähnliches geschah zwischen 1941-1944 in Leningrad.

Davon klar zu trennen sind die anderen beiden Formen des Kannibalismus, bei denen die eigene Art aus freien Stücken verspeist wird. Dahinter steht der Aberglauben, dass in jedem Körper, auch nach dem Tod, Kräfte vorhanden sind, die auf einen noch lebendigen Körper übertragbar sind. Der Gestorbene wird gegessen, um von diesen ominösen Energien zu zehren. Diese Vorstellung rührt von dem damaligen Bild von der Einheit des Körpers, bei der Seele und Fleisch miteinander verbunden sind. Doch ist der Leichnam älter als 3 oder 4 Tage, erlischt diese Symbiose, weshalb man den Leichenschmaus also nicht zu spät servieren durfte. Diese Praxis wurde nicht nur bei den indigenen Völkern Südamerikas vollzogen, viele Bürger Paris, Londons und Berlins verspeisten im 17. – 19. Jahrhundert aus medizinischen oder rituellen Gründen ihre Artgenossen.

Der medizinische Kannibalismus ist in Europa bereits in der Antike durchgeführt worden, in der man Gladiatorenblut gegen Epilepsie verabreicht haben soll. Im 16. Jahrhundert schwärmten Quacksalber, aber auch seriöse Ärzte sowie Apotheker von der Heilkraft frisch Gestorbener und stellten aus ihren Überresten ‚Medikamente‘, Salben und andere Essenzen her. Dies geschah nicht still und heimlich unter der Ladentheke, sondern in aller Öffentlichkeit und ließ einen ganzen Wirtschaftszweig entstehen. Rezepte waren im Umlauf und zeitgenössische Lexika beschreiben die beste Verwertung des Menschenfleisches für Arzneien im täglichen, häuslichen Gebrauch.

Der rituelle Kannibalismus, der ebenfalls in allen Kulturen durchgeführt wird, unterscheidet sich kaum von dem medizinischen. Besonders das Herz oder Gehirn wurde als Sitz der Seele von den Hinterbliebenen gegessen, um die Toten zu verinnerlichen und in der Gemeinschaft zu halten.
In manchen Lehren des Christentums findet eine stark abstrahierte Form dieses Rituses statt. Der Gläubige bekommt während der Messe nicht nur simples Brot und Wein gereicht, sondern isst den Leib Christi und trinkt dessen Blut.

Der Kannibalismus hat also auch in Europa Tradition und die Bürger im CKLKH Fischers „Grosse Kannibalenschau“ miskreditierten die ‚Wilden´ völlig zu Unrecht. Es ist noch gar nicht so lange her, dass unsere Vorfahren selbst Menschenfresser waren, auch wenn mittlerweile das Essen von Menschenfleisch mit einem Nahrungstabu belegt ist.

Liest man diese Dinge über die eigenen Vorfahren, bekommen die Redewendung: „Du bekommst auch noch dein Fett weg“ oder auch Adjektive wie süß, knackig, appetitlich und lecker für die Beschreibung schöner Menschen eine ganz neue Bedeutung.

Lisa Seltmann

Hauptgrundlage dieses Beitrages war der Artikel von Andreas Weiser: Kannibalen? Wir? Gott bewahre! In: GEO, Heft 4 (2011).

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