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„Schreiben ist vergleichbar mit Atmen“

Heidi Lehmann - periplaneta

Ein Interview mit Heidi Lehmann.

Im Frühjahrsprogramm ist bei Periplaneta der Familienroman „Bienenjunge“ erschienen. Die Hamburger Autorin Heidi Lehmann erzählt darin einfühlsam die Geschichte von Kai, der gegen alle Widrigkeiten versucht, seinem autistischen Sohn Cosmas ein gutes Leben zu ermöglichen. Laura Alt hat mit Heidi Lehmann über Inklusion, Bildung und Kunst gesprochen.

Das Thema Autismus ist in der Öffentlichkeit nicht präsent. Wie hast Du zu diesem gefunden und warum hast Du einen Roman darüber geschrieben?

H.L.: Viele Menschen sind daran interessiert, Autismus zu begreifen. Leider fehlt häufig eine tiefere Betrachtung, die unterschiedliche Perspektiven einnimmt, wenn in Medien darüber berichtet wird. Vermutlich auch deshalb, weil Autismus nicht erklärbar ist. Das war einer der Gründe, warum ich diesen Roman schrieb. Dazu kam noch, dass sich mir Figuren aufdrängten, deren Leben mit Widerständen und Zweifeln verbunden sind. Der Gedanke, wie sie damit umzugehen lernen, hat mich fasziniert.
Außerdem gibt es einen persönlichen Hintergrund. Bei meinem elfjährigen Sohn wurde im Alter von neun Jahren Frühkindlicher Autismus diagnostiziert. Aber schon bevor die Diagnose feststand, habe ich mich intensiv mit Autismus auseinandergesetzt. Ich habe durch den Autismus meines Sohnes sehr viel gelernt und lerne immer weiter mit ihm.

Das Thema Schule müsste völlig neu erfunden werden.

Als Kais Sohn Cosmas eingeschult wird, ergeben sich Probleme mit anderen Kindern und den Lehrkräften. Was müsste für eine erfolgreiche Inklusion an Schulen getan werden?

H.L.: Es fehlt an geschulten Lehrkräften und Heilpädagogen, die praxisbezogen arbeiten und über hohe emotionale Intelligenz verfügen. Es gibt es zu wenig Personal in den Schulen und zu viele Schüler in den Klassen. Das Thema Schule müsste völlig neu erfunden werden. Es sind ja nicht nur Menschen im Autismus-Spektrum, die es gerade an Regelschulen schwer haben. Es gibt viele Besonderheiten unter Kindern, die speziell begleitet werden müssten. Hierzu bräuchten wir einen Unterricht, der weniger wissenschaftlich aufgebaut ist, sondern mehr künstlerisch.

Was müssten die Lehrerinnen und Lehrer darüber hinaus anders machen?

H.L.: Pädagogen und pädagogische Fachkräfte können generell nicht ohne Idealismus an ihren Beruf herangehen. Es handelt sich um keinen Beruf, bei dem man seine Arbeitsstunden abfertigt, nach Hause geht und seine Ruhe haben will. Lehrer sollten Kinder in ihrer Individualität erfassen und ihre Fähigkeiten fördern. Noten müssten abgeschafft werden, um Kindern wie Lehrern den Druck zu nehmen. Überhaupt dürfte Schule nicht mehr vom Staat bestimmt werden, da dieser von der Wirtschaft bestimmt wird und Wirtschaft auf Leistung abzielt.

Stellst Du das Leistungsprinzip generell in Frage?

H.L.: Dass Schule und Leistung so eng miteinander verbunden sind, finde ich nicht in Ordnung, denn ein Autist leistet anders als ein Kind mit ADHS oder ein Kind, das einfach ein wenig verträumt ist. Alle haben besondere Fähigkeiten, die ein „normal“ entwickeltes Kind eventuell nicht hat, dieses hat dafür wieder andere Fähigkeiten, mit dem es das autistische Kind unterstützen kann. Auch das „normal“ entwickelte Kind lernt dadurch. Die Aufgabe des Lehrers ist unter anderem, darauf zu achten, wie diese Unterstützung und das gegenseitige Lernen effektiv stattfinden können. Sie müssten ihr Augenmerk auf die Empathie legen, auf Offenheit für Irritierendes, Offenheit für Diversität. So könnten wir uns dem utopischen Gedanken annähern, dass es künftig weniger oder keine Ausgrenzung mehr gibt.

Welche Vorurteile gegenüber Autisten gehen Dir am meisten auf die Nerven?

H.L.: Mich nervt es, wenn behauptet wird, Autisten besäßen keine Gefühle oder wären nicht in der Lage, Empathie aufzubringen. Beides sind schlichtweg seltsame Gedankengebilde von Menschen, die sich nicht mit Autismus beschäftigt haben. Diese Unwissenheit ist verletzend für Autisten und ihre Angehörigen. Wenn ich meinen Sohn beobachte, habe ich das Gefühl, seine Emotionen sind weitaus ausgeprägter als die anderer Menschen. Er zeigt sie auch deutlicher. Wenn er glücklich ist, ist er ganz aus dem Häuschen, sein ganzer Körper ist dann glücklich. Auch beobachte ich, wie sehr ihn das Wohlergehen anderer Menschen beschäftigt. Er ist vermutlich empathischer als viele andere.

Cosmas ist bei einem Besuch außerhalb von Hamburg von der Natur und vor allem den Bienen fasziniert. Ist es schöner, auf dem Land oder in der Stadt aufzuwachsen?

H.L.: Ich bin auf dem Land aufgewachsen und fand es oft schrecklich, nicht wegzukommen und wenig Anbindung an Freizeitmöglichkeiten zu haben. Andererseits habe ich die Natur sehr intensiv kennengelernt, was ich niemals missen möchte. Heute lebe ich in Hamburg und genieße die Möglichkeit, völlig unkompliziert ins Theater oder Kino gehen zu können. Auch der Bereich Bildung ist in einer Stadt besser abgedeckt.
Ich finde, es ist für Kinder wichtig, dass sie beides zumindest im Ansatz erleben können. Ein guter Zugang zur Natur sollte auch Stadtkindern gewährt werden, denn es gibt auch in ihrem Umfeld viele Möglichkeiten, Natur kennenzulernen. Wenn etwa auf dem Balkon Gemüse gezogen wird oder – wie in meinem Roman – Bienen gehalten werden. Kinder lernen unglaublich viel, wenn sie eine Pflanze von der Aussaat bis zur Fruchtbildung begleiten und beobachten. Diese Form von Bildung ist auch Aufgabe der Schule. Gleichzeitig brauchen Kinder, die auf dem Land aufwachsen, einen regelmäßigen Zugang zu den Dingen, die sie in ihrer Umgebung kaum erleben, wie etwa Kunst und Kultur. Kreativität sollte auch in Schulen, die sich auf dem Land befinden, die Hauptrolle im Unterricht spielen.

Heidi Lehmann - periplaneta
Heidi Lehmann – periplaneta

Was uns fehlt, ist eine soziale Plastik.

Trotz Kais Unterstützung leidet Cosmas’ Mutter Jorinde unter der doppelten Belastung ihres Jobs und den Problemen mit ihrem Sohn. Dies steht in gewisser Weise symptomatisch für die Probleme vieler Frauen, die zwar im letzten Jahrhundert das Recht erkämpft haben, selbstständig über ihre Berufstätigkeit zu entscheiden, aber in vielen Familien immer noch größtenteils allein die Hausarbeit stemmen. Braucht die westliche Welt eine neue Frauenbewegung?

H.L.: Eine Bewegung braucht unsere Gesellschaft mit Sicherheit, ob es eine neue Frauenbewegung sein soll, weiß ich nicht – es müsste vermutlich eher eine allgemein-gesellschaftliche sein. Frei angelehnt an Joseph Beuys’ erweiterten Kunstbegriff: Was uns fehlt, ist eine soziale Plastik.

Beuys meinte damit, dass die Kunst die Gesellschaft gestaltet und umgekehrt. Er verstand die Gestaltung der Gesellschaft als kreativen Prozess, an dem alle beteiligt sind. Wie lässt sich das auf die genannten Probleme der Frauen in unserer Gesellschaft anwenden?

H.L.: Wir brauchen dringend ein neues soziales Bewusstsein, denn dadurch würden die Belastungen, die Frauen zu tragen haben, wenn sie sich neben Kindern auch für Berufstätigkeit entscheiden, möglicherweise von selbst auflösen. Haushalt und Kindererziehung sollten von staatlicher Seite durch ein bedingungsloses Grundeinkommen ausgeglichen werden. Dadurch würden auch Kinder honoriert werden, die hart arbeiten, indem sie für die Gesellschaft lernen, wachsen und sich entwickeln. Frauen sollten frei und unvoreingenommen darüber entscheiden können, ob sie zur Arbeit gehen oder eine kürzere bzw. längere Baby- oder Kindererziehungspause einlegen wollen. Sie sollten aber nicht dafür kämpfen müssen, Unterstützung zu bekommen, wenn es um Kindererziehung und Haushalt geht.

Müssen sie das denn heutzutage noch?

H.L.: Wenn eine Frau arbeiten geht, wird das als normal angesehen. Gleichzeitig wird ihr aber die Hausfrauen- und Mutterrolle zugeteilt – diese wird sozusagen von ihr erwartet. Im Gegensatz dazu wird es oftmals als etwas Besonderes angesehen, wenn ein Mann neben der Berufstätigkeit den Kinderwagen schiebt. Warum werden gleiche Tätigkeiten, wenn von einer Frau ausgeführt, als selbstverständlich angesehen, bei einem Mann aber als etwas Besonderes?

Mit jeder Figur, die ich neu erschaffe, komme ich mir selbst näher.

Die Künstlerin Lilith in Deinem Roman führt ihr Unglücklichsein auf ihren Beruf (bzw. ihre Berufung) als Malerin zurück. Kai hingegen schöpft aus seinem kreativen Schreiben neue Kraft und sieht es als Auszeit. Wie ist das für Dich? Warum schreibst Du?

H.L.: Schreiben war für mich schon immer eine Transformationsmöglichkeit – ich lerne dadurch, die Welt und mich selbst zu verstehen. Insofern gibt mir mein Schreiben sehr viel Kraft. Es ist tatsächlich so, dass ich schreiben muss. Dieses Müssen ist als innerer Antrieb zu verstehen. Schreiben ist für mich vergleichbar mit Atmen. Ich wäre unglücklich, wenn ich nicht über das kreative Schreiben einen Ausdruck finden könnte. Mit jeder Figur, die ich neu erschaffe, komme ich mir selbst näher. Das ist ein schönes Gefühl. Ich liebe es, meine Empfindungen nach außen zu stülpen, sie mir ganz genau anzuschauen und fasziniert darüber zu sein, Besonderheiten an mir zu entdecken, die ich noch nicht kannte. Auch solche, die mir zunächst unheimlich sind.

Sind weitere Bücher in Planung?

H.L.: Ich schreibe gerade an einem Roman, dessen Figuren unterwegs sind. Ein Road-Novel sozusagen. Der Prozess ist angenehm aufregend, weil sich die Handlungsorte schnell verändern und ich mich gemeinsam mit meinen Figuren immer wieder neu orientieren muss. Nebenbei schreibe ich auch kurze experimentelle Texte und verschaffe mir gerade einen Zugang zum Poetry Slam. Außerdem existiert in meinem Kopf die Idee, ein Theaterstück zu schreiben. Es gibt bereits Notizen, Fragmente und ein Kernthema. Ich freue mich sehr darauf, dieses Projekt zu konkretisieren.

Vielen Dank für das Interview.

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