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Finden und Verlieren

Matthias Rische - Periplaneta TresenLesen 2022

Leseprobe aus “Die Mimik der Haie” von Matthias Rische

Sie schlägt mit beiden Händen immer wieder auf das gepolsterte Lenkrad, während ihr Fuß das Gaspedal durchdrückt. Durch einen Schleier von Tränen erkennt sie die unwirkliche Landschaft im Licht der Dämmerung. Diffus.

Der metallicgrüne Peugeot rast auf ein Waldgebiet zu, in dem sich die Bäume der gegenüber liegenden Straßenseiten einander zuneigen, als würden sie einer speziellen Etikette folgen.

Seit über einer Stunde fährt sie stur geradeaus. Damit sie nicht plötzlich wieder am Ausgangspunkt ankommt. Raus aus der Stadt, die mit einem Mal zu klein geworden ist – für Micha und sie. 

Sie hatte den Ring an seiner rissigen Hand bemerkt. Zum ersten Mal. Nach zwei Jahren glücklicher Beziehung hatte er vergessen, ihn abzulegen, ehe sie sich trafen. Wenn sie das vor gewusst hätte, sie hätte doch nie …

Sie hatte keine Fragen, keine Worte mehr. Keine Gemeinheiten für ihn, keinen Trost für sich selbst. Sekundenlang hatte sie den silbernen Ehering angestarrt. Dann verweigerte sie sich seinem unbeholfenen Versuch, sie zu umarmen und war gegangen.

Endlich.

Seine Finger trommeln im Takt zu „I will follow him“ auf das Lenkrad. Der Titel läuft in Endlosschleife, immer und immer wieder. Er liebt den choralen Anfang und die sich zum Popsong steigernde Melodie. Die Schwestern aus Sister Act meinten ihren Gott. Er hatte seinen gefunden, in Menschengestalt. Und das in Himmelsberg.

Himmelsberg liegt im Nirgendwo. Hier fahren Autos nur durch. Eines hat gehalten. Am Wahrzeichen des Ortes, einer alten Gerichtslinde. Da, wo sich die Einwohner treffen, um zu reden – manchmal zum Tanz.

Er saß dort, um die Zeit an einem frühen Samstagmorgen totzuschlagen. Die Wagentür öffnete sich. Der Fremde stieg aus und blieb unschlüssig in seiner Nähe stehen. Die Tür des alten VW Jetta festhaltend, als könne der Wagen verschwinden und er stünde mutterseelenallein in der Fremde.

Als sich ihre Blicke trafen, fand sofort ein Erkennen statt. Ein Registrieren, wer der Gegenüber ist. Jules verschloss seinen Wagen, kam auf ihn zu und sie unterhielten sich eine Ewigkeit. Die Langeweile war verschwunden, wie ein flüchtiger Gedanke. 

Jetzt, vier Wochen später, ist er auf dem Weg in die Stadt. Dorthin, wo es einfacher scheint, seinen Gefühlen nachzugeben.

Seine Finger halten den Takt des Songs. Seine Stimme übertönt den Gesang des Chores.

Der Tacho zeigt 120 km/h an. Viel zu schnell für eine Landstraße, wo sich die Kronen der Bäume über der Mitte der Straße schließen. Gäbe es keinen Lichteinfall von der Seite, sie könnte denken, sie durchquere einen Tunnel. 

Ein Naturschutzgebiet, fällt ihr ein. Wo das Leben so belassen wird, dass es sich in Ruhe entwickeln kann. 

Das sich belassen, das wäre es gewesen. Sich morgens auf das Aufstehen freuen, am Abend aufs Zubettgehen. Dazwischen ein wenig Alltag bewältigen. Zum Glück hat sie immer verhütet. Nicht auszudenken, sie säße jetzt, morgen und in zehn Jahren mit einem Balg da. Allein. Weil sie zu blöde und einfältig war, die Augen zu öffnen. Sich getragen fühlte von einer Wolke der Zuneigung, Zärtlichkeit und gegenseitigem Respekt. 

„Ha!“, schreit sie der vorüberfliegenden Landschaft zu. 

Mit neunundzwanzig ein Benehmen wie ein Teenager. Eine rosa Zukunft verkommen zu einem missratenen Beischlafakt, der sich nun anfühlt, als hätte er in kaltem Schlamm stattgefunden. Genauso fühlt sie sich. Benutzt und mit Dreck beworfen. 

Erneut schlagen ihre Hände auf das Lenkrad ein. 

Ein Outing in Himmelsberg war unvorstellbar. Freundlich lächeln, den Pfarrer grüßen, sonntags zum Kaffeetrinken bei der Großmutter vorbeischauen, dem Kirchenchor bei der Probe zusehen. Das klingt nach dem Klischee typischen Dorflebens.

„Aber so fühlt es sich an“, erzählt er seinem Rückspiegel.

Wie hätte er sich denn in der Atmosphäre hinstellen sollen und zu Moni, Lena oder Katja sagen: „Mädels, ihr seid ja ganz süß, aber ich würde es gern mal mit Hans probieren.“ 

Stattdessen Küsschen links, Küsschen rechts, ein unverfängliches Streifen der Schulter. So hielten ihn alle für schüchtern. Mehr brauchte er nicht.

Jules war wiedergekommen. Zwei Wochen später. Sie hatten im Wirtshaus gesessen und geredet, gegessen und getrunken. Blicke wurden getauscht und Worte. Nichts, was andere auf komische Gedanken hätte bringen können. Männergrüppchen saßen oft im Wirtshaus. Das erregte keine Neugier.

An dem Abend traf er den Entschluss, einen Schritt weiterzugehen. Herauszufinden, ob das kulturelle Leben – abseits von Kirchenbesuch, Wirtshausprügelei und Erntedankfest – wirklich so aufregend war oder nur Gerede. Zu ergründen, ob hinter Jules’ smartem, zärtlichen Lächeln ein ebensolcher Körper steckte. 

Fulda sei dafür zu klein, erzählte Jules, dafür müsse er schon nach Frankfurt kommen. 

Er hatte bei diesem Besuch ein Selfie von ihnen beiden geschossen. Das Foto auf seinem Smartphone hilft ihm – links an der Windschutzscheibe haftend – die Kilometer bis in die große Stadt voller Vorfreude zurückzulegen. 

Kurvenreich ist die Strecke. Kaum Verkehr. Der Wald verbirgt keine Elfen und Trolle, auf deren Wohlergehen sie achten müsste. In Island war sie noch nie. Bilder von wilder Landschaft, Geysiren und Reykjavik hat sie mehrfach gesehen. Und dass die so einen Minister haben, der Bauvorhaben stoppt, sobald der Lebensraum dieser Wesen bedroht wird. Lange Zeit hatte sie gedacht, Elfen und Trolle entsprängen ebenso einem Mythos wie der von den Hexen. Hexenverbrennungen waren früher aber auch ganz real. 

Diese Gedanken heitern sie auf. Der Blick in den Rückspiegel weit weniger. Aus dem Glas blickt ein hexenähnliches Wesen zurück. Haare zerzaust und zerwühlt, vom Weinen geschwollene Augen und hektisch rote Wangen. 

Sie steigt voll in die Eisen. Der Peugeot schlingert, dreht sich halb und bleibt in der Mitte des Asphalts stehen.

Zum vorherigen Anblick kommen nun aufgerissene blaue Augen.

Zweimal atmet die Frau tief durch. Dann beginnt sie in ihrem Rucksack zu wühlen. Sie zieht ein Schminktäschchen hervor, wischt mit einem Erfrischungstuch mehrfach über ihr Gesicht. Dann trägt sie Mascara und Lippenstift auf. Beginnt ihr Aussehen aufzuhübschen.

„Das machst du nicht aus mir“, schleudert sie ihrem Spiegelbild entgegen. Auch wenn sie Trolle, Elfen und Feen mochte – so nah wollte sie ihnen nicht kommen. Da war Gisele Bündchen vom Aussehen her schon angenehmer. 

Aus dem Augenwinkel nimmt sie einen Lichtstrahl wahr. Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht.

Zu Beginn der Fahrt kam er sich in Papas 7er BMW völlig deplatziert vor. Ein Wagen, der Geld vor sich herschiebt und gleichzeitig massenhaft verbrennt. Aber der große Innenraum bietet ihm die Möglichkeit zu wachsen. Und das muss er, um sich mit Jules auf Augenhöhe zu treffen. So sehr er sich auf den drei Jahre älteren Mann und die Großstadt auch freut – er hat Angst davor, als das plumpe Jüngelchen vom Lande dazustehen und sich dem Großmeister aus der Stadt zur Verfügung zu stellen. Je näher er Frankfurt kommt, desto nervöser wird er. 

Im Nachbarort seines Heimatdorfes hat er eine kleine Packung Zigaretten gekauft. Erstmals. Geraucht hat er noch nie. Aber glaubt fest, dass er mit einer Kippe im Mund vor den Frankfurtern cooler wirkt. Er wird mit Jules ja nicht gleich ins Bett springen. 

Er öffnet die Schachtel. Seine erste Zigarette, sein erster Sex. Das bisschen Rummachen mit Anna vor ein paar Jahren zählt nicht. Führte auch zu nichts. Das Erscheinen ihrer Mutter im Zimmer bereitete der lustlosen Fummelei ein abruptes Ende. 

Wenn Araber Selbstmordattentate begehen, fahren sie zu den 72 Jungfrauen auf – hatte er mal gehört – und sich geschämt, dass er mit zwanzig immer noch eine war. Damit wäre es dann irgendwann in dieser Nacht vorbei. 

Beim erneuten Blick auf das Selfie hat er das Gefühl, er laufe rot an. 

Wenn die erste Zigarette seines Lebens schmeckt, wird auch der erste Sex schmecken. Mit Jules. Noch ein Blick auf das Smartphone. Ein breites Lächeln. 

Mit sich selbst Wetten einzugehen, ist nicht sinnvoll. Es ist lächerlich, das ist ihm bewusst. Er zündet die Zigarette an – und wird umgehend von einem heftigen Hustenanfall überrascht.

Das Licht schlingert beim Näherkommen. Das bedeutet Abschluss und Neuanfang. Sie setzt den Lippenstift ab und schaut dem Licht entgegen. Es wird sie berühren. Michael und die vergangenen zwei Jahre in Luft auflösen. Jetzt ist sie bereit zu lächeln. 

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