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Die Ur-Vernichter

Ameise

Ein Peripherieartikel über Treiberameisen von Alexander Blumtritt.

Über das Cover von „Die Gleichheit der Blinden“ von Nora Beyer krabbeln Ameisen. Ein insektenaffiner Mensch wie ich denkt bei dieser Verbindung von Titel und Motiv augenblicklich an Treiberameisen. Darunter zählt der Zoologe diverse Ameisenarten in Mittel- und Südamerika, Afrika und Asien, die mehr oder weniger nah verwandt sind, sich aber durch eine gemeinsame Eigenschaft auszeichnen: Sie sind „nature’s primordial exterminators“, wie es ein Ameisenforscher ausdrückte. Die Ur-Vernichter.

Ausführungen über diese Tiere lesen sich wie Horror-Science-Fiction. Jeden Tag verlassen Hunderttausende bis Millionen Arbeiterinnen einer Kolonie ihr Nest und gehen als gigantische Marschsäule auf Raubzug durch den Dschungel. Die Armee der amerikanischen Art Eciton burchellii kann 200 Meter lang und 20 Meter breit werden. Alles, was ins Schema fällt und nicht entkommen kann – Insekten, Spinnen, Würmer, kleine Wirbeltiere –, wird getötet und vor Ort mit riesigen Mundwerkzeugen zerlegt. Einzelne Ameisen schaffen die Beute ins Nest, wo sie an die Larven verfüttert wird. Soldaten, bedeutend größer als die Arbeiterinnen, flankieren den Heerzug mit weit aufgerissenen Zangen und sichern den Weg. Wenn Hindernisse überwunden werden müssen, bilden die Arbeiterinnen Brücken oder Säulen.

Eine Treiberameisenarmee zieht nie zweimal über dasselbe Stück Land und wechselt täglich ihr Nest. Die meisten Arten bauen es unter der Erde – Eciton baut es aus sich selbst. An geschützten Stellen, etwa in hohlen Baumstämmen, greifen sich unzählige Ameisen gegenseitig an den Beinen und bilden eine lebendige Struktur mit Gängen und Kammern. Ein Nest, dessen Wände sich bei Gefahr mit Giftstacheln und Maulzangen verteidigen. Darin befinden sich die Nahrung, die Königin, die Larven und die Eier. Sobald die Larven sich zu verpuppen beginnen, setzt eine stationäre Phase ein: Die Kolonie bleibt für ein paar Wochen an Ort und Stelle. Alles, was bisher den Larven verabreicht wurde, bekommt nun die Königin. Ihr Hinterleib schwillt an und sie legt Eier, bis zu einer Million in einem Monat. Die Königin der afrikanischen Art Dorylus molestus kann in diesem Stadium acht Zentimeter lang werden – die größte Ameise der Welt. Auch die Männchen sind wahre Riesen. Durch ihre funktionsfähigen Flügel und ihre dicken, langen Hinterleibe sehen sie wie monströse Wespen aus. Bei vielen afrikanischen Völkern gelten sie als Delikatesse, die Europäer nannten sie „sausage flies“.

Ein weiteres Faszinosum ist, dass die meisten Treiberameisen blind sind. Orientierung und Kommunikation funktionieren über Pheromone, die sie auf Schritt und Tritt abgeben. Anhand der Duftstoffkonzentration nehmen die Arbeiterinnen und Soldaten beispielsweise wahr, wie nahe sie sich am Rand der Kolonne befinden und in welcher Richtung das Nest liegt. Die Tiere folgen den Pheromonspuren ihrer Vorgänger und verstärken sie dabei. Weil sich die Spuren oft kreuzen, kann es passieren, dass sich ein großer Strudel aus Ameisen bildet, die bis zum Erschöpfungstod im Kreis laufen. Das macht sie zu einem anschaulichen Beispiel dafür, dass Schwarmintelligenz Grenzen hat.
Die Intelligenz des Menschen brachte ihn irgendwann darauf, dass man Treiberameisen zum Verschluss von Wunden verwenden kann. Man hielt Exemplare mit besonders weiten Kiefern an den Wundrand und ließ sie zuschnappen, dann brach man sie hinter dem Kopf ab. Das hielt mehrere Tage. Bis ins 19. Jahrhundert war das eine gängige Methode und wird mancherorts wahrscheinlich noch heute praktiziert.

Wundverschluss statt Larvenfutter – wir können uns glücklich schätzen, die Ameisen um ein gutes Stück zu überragen. Wie sich ein weit ungünstigeres Größenverhältnis anfühlt, erfährt Anna in „Die Gleichheit der Blinden“.

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