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Märchen: Folterschrift oder Kinderbuch?

Wald und Nebel

Märchen damals und heute…

Der goldene Oktober ist vorbei und draußen ziehen sich seit Tagen wabernde Nebelschwaden über die fast gänzlich kahlen Bäume, deren Äste wie dürre Finger hinauf zum dunkelgrauen Himmel zeigen. Der beißende Wind treibt die letzten Blätter umher und lässt die Balken knarren. Ich blicke nach draußen. Die Stimmung könnte unheimlich, gar bedrohlich wirken, doch keins der unguten Gefühle dringt zu mir vor. Ich sitze auf dem Sofa meiner Eltern. Eingewickelt in eine rote Decke, und mit einer Tasse Kakao in meiner Hand lausche ich der Stimme meiner Mutter, wie sie mir aus dem roten Buch vorliest, das seit ich denken kann die Reihen unseres weißen Bücherregals ziert. Meine Mutter senkt ihre Stimme, die Geschichte ist zuende. Doch sie kommt gar nicht erst dazu, das Buch zuzuklappen, da protestieren meine Schwester und ich, um auch noch die nächste Geschichte hören zu dürfen.

So oder so ähnlich darf man sich die Märchensonntage vorstellen, bei denen uns die Zeilen der Gebrüder Grimm wieder und wieder an Orte entführten, an denen Hexen, Prinzessinnen, tapfere Ritter und sprechende Tiere einen realen Stellenwert hatten. Wenn ich damals über den Ursprung dieses wichtigen Teils meiner Kindheit Bescheid gewusst hätte…


Wenn man die Geschichten nämlich von einem nüchternen, unromantischen Standpunkt aus betrachtet, fallen doch so einige Elemente auf, die eigentlich kaum für Kinderohren bestimmt sein können. Ein Kleinwüchsiger, der sich ein Bein ausreißt, ein hinterhältiges Stiefmonster, das in seiner Freizeit harmlose Äpfel vergiftet und abgeschnittene Zehen sowie Fersen – klingt eher nach Folterkammer als nach Kinderbuch, oder?
In der vorherigen mündlichen Überlieferung und auch noch im ersten geschriebenen Band der Gebrüder Grimm stellten die Erzählungen tatsächlich meistens die gesetzlichen Bestrafungsmethoden des Mittelalters dar, was für die beiden Juristen Grimm natürlich auch von fachlichem Interesse gewesen sei, so ein Artikel in der Online Ausgabe des Focus. Weiter heißt es dort, dass erst die zweite Auflage ihrer Sammlung den klassischen, eher kinderfreundlichen Erzählstil aufweise. Die Begründung: die selige Reinheit der Kinder. So sei aus der einstigen Gruselerzählung ein Erziehungsbuch und aus Folter und Tod die bekannten Happy Ends entstanden. Und weil es auch äußerst unangenehm wäre, den eigenen Drei-Käse-Hochs erklären zu müssen, was denn eine leidenschaftlich – rot gekleidete junge Dame so abseits des Weges und in die Hände des unartigen Wolfes ver.. entführt, seien anstößige und unangebrachte Elemente ebenfalls eliminiert worden.
Trotzdem werden heute noch Zweifel laut, die den pädagogischen Sinn der Bücher infrage stellen. Trotz der guten Enden wurden die brutalen Inhalte ja beibehalten, wie man beispielsweise am Schicksal der sieben Geißlein erkennen kann. Der promovierte Pädagoge Oliver Geister äußerte sich für einen Beitrag der Zeitschrift Kids und Co zu diesem Thema.
Laut ihm gebe es mehrere Gründe, wieso Märchen bei Kindern, aber auch bei Erwachsenen zeitlos so gut ankommen. Typische Figuren, eine kurze und klare Struktur, magische Elemente und natürlich die guten Ausgänge seien dabei wichtige Faktoren für den Erfolg der fantastischen Geschichten. Dass gerade Kinder mit besonders hohem Interesse darauf reagieren, begründet er mit ihrer Fantasie und der ‚‚anderen‘‘ Wirklichkeit, in der sie leben. Rationalität wäre in ihrem Leben von eher niedriger Bedeutung, sie bräuchten keine Erklärungen für Dinge, um sie hinzunehmen. Daher bestätige die Märchenwelt, in der lebende Gegenstände und sprechende Tiere an der Tagesordnung stehen, ihre Wahrnehmung der Welt. Auch der Einsatz von kindlichen Figuren, die in ihren Geschichten verschiedenes meistern müssen, sorge dafür, dass Kinder sich in ihrer eigenen Entwicklung und Problembewältigung unterstützt sehen. Überdies gebe die klassische Unterscheidung von Gut und Böse einen Anhaltspunkt, sich diesbezüglich in der Realität zurechtzufinden. Unerlässlich seien Märchen dafür zwar nicht – sinnvolle Wegbegleiter können sie jedoch durchaus sein.
Nun sind die allseits bekannten Märchen der Gebrüder Grimm oder anderer zeitgenössischer Schriftsteller in der heutigen Zeit, gut 200 Jahre nach Erscheinen des ersten Grimm-Bandes, doch etwas altbacken. Dafür gibt es im 21. Jahrhundert Autoren wie Thommi Baake, der mit seinem Kinderbuch ‚‚Verrücktisch-Fantastiolische Märchen‘‘ ganz neue Welten veröffentlicht. Mit bekannten, aber neu durchdachten Motiven überzeugt er mit vollkommen neuen Fantasieländern und außergewöhnlichen Helden: Teelöffel, Trollwolkenmonster und Sonnengelbvögel.
‚‚Sie wohnte nicht auf der Erde, sondern auf einer Ebene knapp über den Wolken, in einer eigenen Welt. Auf dieser Scheibe leben Regenfeen, Windmänner und -frauen, Blitzmacher, Donnerfrauen und sogar der Weihnachtsmann hat dort ein Sommerhäuschen.‘‘
Wer sich also ganz neu verzaubern lassen möchte, der tut gut daran, diese Geschichten zu lesen oder sie sich vorlesen zu lassen.

Hanah Haberberger

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