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Schöne neue Realität

Warum Reality-TV Angst vor der Wirklichkeit macht und die Sehnsucht nach Fiktion weckt

Die Teenagertochter, die nicht versteht, dass die Eltern ihr die Nasen-OP nicht zum Geburtstag schenken wollen; das uneinsichtige Ehepaar, das sich zwei Autos und vier Handyverträge leistet und sich dann vom sympathischen und bereits leicht gestressten Schuldnerberater seine monatlichen Ausgaben vorrechnen lässt; der Familienvater, der sich ein Zubrot verdient, indem er pikante Videos von sich und seiner Frau auf einschlägigen Internetplattformen veröffentlicht – der Wahnsinn greift um sich, aber nicht in irgendwelchen Schundromanen, sondern lediglich, wenn man nachmittags den Fernseher einschaltet. Und während man noch offenen Mundes wie auf dem Sofa festgetackert sitzt und sich verzweifelt zu fragen beginnt, ob Fernsehen die Realität kopiert oder andersherum und wo man sich in diesem Fragespiel denn nun selbst befindet, haben sie sich schon ganz klammheimlich ins Unterbewusstsein eingeschlichen – die Trigger, die die Neugier kitzeln und mit der eigenen Lust am Voyeurismus spielen.

Dass Reality-TV-Macher wissen, welche Knöpfe sie beim Zuschauer drücken müssen, beweist der unverändert anhaltende Boom dieser Formate im deutschen und internationalen Fernsehen. Mehr als 60 Reality-TV-Sendungen flimmern wöchentlich in die deutschen Wohnzimmer. Tag für Tag werden auf der Mattscheibe Bruchbuden in grellfarbig tapezierte Musterhäuser verwandelt, zukünftige Super-Stars entdeckt und augenblicklich wieder vergessen oder Mütter eingetauscht und nach drei Tagen schmerzlich wieder zurückgewünscht. Es werden widerspenstige Heranwachsende am Ende der Welt in demütige Vorzeigesprösslinge umtherapiert, bankrotte Ekel-Imbisse zu florierenden Nobellokalen gemacht und schwer vermittelbare Landwirte erfolgreich unter die Haube gebracht.

Der Phantasie des Echtmenschenfernsehens sind keine Grenzen gesetzt, neben einigen vertrauten Größen des Genres, die sich jahrzehntelang großer Beliebtheit erfreuen, sind die meisten Unterformen kurzlebiger und verschwinden nach Ausreizung bis zur äußersten Geschmacks- und Belastungsgrenze sofort wieder in der Versenkung bzw. werden durch neue, immer bizarrere oder radikalere Formate ersetzt.

Die Ursprünge des Realityfernsehens liegen schon in den 1940er Jahren. In einer US-amerikanischen Sendung mit dem Titel Candid Camera wurden Reaktionen von Passanten auf Gags gefilmt (wohl eine Vorform der hierzulande später populären Versteckten Kamera). In den darauf folgenden Jahrzehnten traten sowohl jenseits des großen Teiches als auch bei uns Spiel- und Talentshows ihren Siegeszug an, gefolgt von Reality-Shows in dokumentarischem Stil; und schließlich erfuhr das Genre 1999 in Deutschland mit Big Brother einen Höhepunkt, der bis heute anhält.

Mittlerweile gibt es Reality-TV in den unterschiedlichsten Subformen: so genannte „Makeover Shows“, in denen thematisiert wird, wie eine Person sich selbst oder ihr Umfeld verbessert oder in denen ihr geholfen wird, ihre Lebensumstände oder ihren problembehafteten Alltag zu bewältigen – im Fachjargon auch als „Emotainment“ bezeichnet. „Reality-Game-Shows“, in denen die Teilnehmer nicht nur Aufgaben erfüllen müssen und rund um die Uhr gefilmt, sondern zusätzlich auch noch hochgradig psychisch belastenden Situationen ausgesetzt werden, um den Unterhaltungswert der Show zu steigern. Auch „Reality-Castingshows“, deren Stern in Deutschland mittlerweile wohl am Untergehen ist, zählen zu dieser Gruppe.

Kochshows, Talkshows, Mockumentarys oder Gerichtssendungen – die Liste der Sendeideen scheint erschreckend vielseitig, doch so verschieden die Ausprägungen des Realitätsfernsehens auch anmuten, ihnen allen sind einige sehr einfache Merkmale gemein, mit denen der Zuschauer oft stundenlang an den Fernsehsessel gefesselt wird: regelmäßige Ausstrahlung schafft ein Kontinuitätsgefühl, attraktive Situationen werden forciert und nicht selten wiederholt und überzeichnet, im Nachhinein eingefügte dramatische Effekte wie Musik oder eine gezielt eingesetzte Moderation aus dem Off erhöhen den emotionalen Zugriff.

Mit der Schwemme an Reality-Sendungen und den gleichzeitig aufkommenden Ethik- und Moraldebatten wurde es für die Produktionsfirmen jedoch zunehmend schwieriger, immer neue Protagonisten mit interessanten Geschichten und Drang zu medialem Exhibitionismus aufzutreiben. Mittlerweile hat sich daher mit den „Scripted Reality-Formaten“ eine Art von Pseudo-Realitätsfernsehen etabliert, in dem Schauspieler eine scheinbare Wirklichkeit inszenieren, deren Plots dem Drang der Zuschauer nach immer abstruseren Geschichten nachkommen und sich so gleichzeitig immer weiter von der wirklichen Realität entfernen.Die Grenzen zwischen Wahrheit und Wahnsinn verwischen so zunehmend, und die Expertenmeinungen über die Auswirkungen auf die Zuschauer gehen auseinander.

Bernd Ernst erfindet in „Was wollen die denn da?“ in Vollpension mit Therapie eine ungewöhnliche Strategie für seine Protagonisten, die von einer Reality-TV-Produktion zwar komplett in falschem Licht dargestellt werden, aber sich einfach nicht darum scheren, sondern sich mit dem Geld ein schönes Leben machen und für sich selbst ihre eigene Realität stricken. Vielleicht ist dieser Vorschlag eine adäquate Methode, um Z-Promis, die nach 20 Uhr um die Wette Schafshirn essen, zu ertragen und dabei nicht dem Irrsinn anheimzufallen.

Andernfalls bleibt einem ja immer noch, einfach den Fernseher abzuschaffen oder an das verschuldete Ehepaar aus der Mittwochabendsendung zu spenden.

Franziska Dreke

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