Veröffentlicht am Schreib einen Kommentar

Kindchenschema

Oder: Ich kann nichts dafür, es ist mein Brutpflegemechanismus.

Ruckartiges Stehenbleiben, aufgerissene Augen, entzücktes Aufkreischen: „Oooh süüüüß!“ Während ich noch wie berauscht dem flauschigen Welpen hinterherblicke, der da gerade um die Ecke biegt, ernte ich meistens genervte Blicke von meiner Begleitung. Sobald das kleine Fellknäuel dann aus meinem Sichtfeld entschwunden ist, erwache ich aus einer Art Trance, senke meine Stimmlage um ein paar Oktaven, und ärgere mich, mal wieder die Kontrolle (und ein Stück meiner Würde) verloren zu haben. Was haben nur diese schlappohrigen, kurzbeinigen Wesen an sich, dass ich mich regelmäßig selbst vergesse und in der Öffentlichkeit blamiere? Das gleiche Spiel erlebe ich bei Freundinnen auch, allerdings vor allem beim Anblick weniger haariger Kreaturen: Babys und Kleinkinder. Die beeindrucken mich zwar nicht so wie Welpen, aber lassen mich doch nicht vollständig kalt – zumindest solange sie keine Geräusche von sich geben oder diverse Körperflüssigkeiten absondern.

Um meinen augenrollenden Freunden zu beweisen, dass es sich bei einem Ausbruch dieser Art um einen Automatismus handelt, dem ich und andere machtlos unterliegen, recherchiere ich im Bereich Tier- und Menschenkinder. Ich stoße auf den Begriff des Kindchenschemas.

Dabei handelt es sich um bestimmte Proportionen und Züge eines Kindergesichts, die bei Erwachsenen als Schlüsselreiz wirken und einen Brutpflegemechanismus auslösen. Dazu gehören zum Beispiel große Augen, eine hohe Stirn, ein runder Umriss des Kopfs – ein Babyface eben. Interessanterweise lässt sich dieser Mechanismus laut dem Magazin Spektrum der Wissenschaft auch auf Tiere übertragen, die eben diese Merkmale aufweisen. So löse eine Wüstenspringmaus mehr Sympathie aus als ein Feldhase, ein Mops eher als ein Jagdhund, ja sogar ein Rotkehlchen wecke aufgrund des Kindchenschemas stärkere Zuneigung und Schutzinstinkte als eine Krähe.

Es ist also tatsächlich ein Urinstinkt, meine erste Natur sozusagen, die mich beim Anblick eines Welpen überwältigt. Das erklärt natürlich auch, warum diese Reaktion eher bei Frauen, die in der Evolution nun mal direkt für die Brutpflege verantwortlich waren, als bei Männern ausgelöst wird. Allerdings, das ergeben meine Recherchen, gibt es unter Forschern die Meinung, dass das Kindchenschema auch einen Einfluss auf die Attraktivität einer Frau hat. Kleines Kinn, große Augen, hohe Stirn – die Merkmale, die ein Kindergesicht ausmachen, wurden an einer erwachsenen Frau von den meisten Testpersonen als besonders attraktiv empfunden. Als Prototyp dieses Babyface gilt zum Beispiel Brigitte Bardot.

Ziemlich gruselig, wenn man mal darüber nachdenkt. Wenn ein Mann also auf der Straße einer Frau mit kindlichem Gesicht hinterherschaut und ich einem Welpen, dann handelt es sich im Grunde um den gleichen Instinkt. Mit unterschiedlichen Absichten. Hoffentlich.

Die Vorteile der Niedlichkeit reichen jedoch noch viel weiter. Die Marketingbranche zum Beispiel nutzt das Schema gnadenlos aus und lässt sogar Autos, die eher von Frauen gekauft werden sollen, mit den entsprechenden Elementen im Design versehen (wer schon mal in die großen Augen eines Twingo oder in das Duckface einer Ente geschaut hat, weiß, was gemeint ist).

Dass auch sicherlich Buchcover nicht von dieser Verkaufsstrategie verschont bleiben, ist anzunehmen. Doch laut dem Zeitmagazin sind in den letzten Jahren eher leere Stühle und einsame Frauen in der Landschaft als emotionale Reize bei der Covergestaltung beliebt gewesen.

Einsamkeit des Hurenkindes

Mit dem Vorteil des Kindchenschemas, allerdings in einer eher sprachlichen Art und Weise, beschäftigt sich auch Matthias Niklas in seinem Beitrag in der neuen Vision & Wahn Anthologie „Die Einsamkeit des Hurenkindes“. In diesem erklärt der Lesebühnenautor die Verniedlichungsform, den sogenannten Diminutiv, auch noch zur Lösung des ewig diskutierten Gender-Problems in der deutschen Sprache. Warum eigentlich nicht gleich mit Kindchenschema die Welt retten? Denn wie der Autor so schön schlussfolgert:

Ein Männchen des Volkes wird bestimmt nicht so leicht Diktator wie ein Mann des Volkes, ein Äusländerlein macht einem patriotischen Europäerle nicht ganz so viel Angst, und vielleicht kriegen wir so sogar leichter ein Rüstungsexporteurchen hinter Gittern.

Vanessa Franke

Newsletter?

Wähle mindestens eine Liste:

Schreibe einen Kommentar